Forsythe am Mariinsky

Nur ein theoretisches Vergnügen

St. Petersburg, 23/04/2007

Als William Forsythe im Jahr 2004 seine vier Stücke für das Mariinsky Theater einstudierte, hat er den Zuschauern erst einmal den Boden des Gewohnten unter den Sitzen weggezogen. Am Anfang stand sein „StepText“ aus dem Jahr 1985 zur Partita Nr. 2 von Johann Sebastian Bach, das bei erleuchtetem Zuschauerraum mit der Improvisation eines Tänzers beginnt, die von einem zweiten fortgeführt wird, ehe im roten Ganzkörpertrikot Daria Pavlenko hinzukommt. Forsythe verweigert die Konvention von gleichzeitiger Musik und Tanz. Entweder bricht das eine oder andere ab, und kaum hat man sich bei einer längeren Sequenz an das Licht im Zuschauerraum gewöhnt, folgt der völlige Black Out. Brutaler kann man Bewegung, Musik und Bühnenoptik nicht fragmentieren, aber so aus allem Gewohnten herausgerissen nimmt man in den teilweise artistischen Tanzsequenzen immer von Neuem nicht nur den Prozess der Bewegungsfindung wahr, sondern auch die vielen Möglichkeiten, wie man die Musik hören kann, um diese oder jene in Bewegung umzusetzen. Was 2004 in St. Petersburg noch wütenden Protest und gleichzeitig dank der unglaublichen Dynamik der Premierenbesetzung mit der jetzt in Dresden tanzenden Natalia Sologub Bewunderung hervorgerufen hatte, wurde jetzt gelassen hingenommen und war auch nicht so spektakulär getanzt.

Als zweites Stück setzt „Approximate Sonata“ aus dem Jahr 1996 die Bewegungs-Recherche zur Montage der Pianotöne von Thom Willems als leichtere Kost fort, zumal die vier wechselnden Paare alle ihren eignen Reiz haben und die relaxte Musik mehr Zeit lässt. Allerdings kommen neue Fragmentierungen der Abläufe ebenso hinzu wie ihre Beschleunigung durch unmittelbare Übergänge, ferner Figuren, die besonders bei der langgliedrigen, ihre Virtuosität rasant einsetzenden Viktoria Tereshkina faszinieren. Derartig vorbereitet konnten die Zuschauer in diesem Mittelteil unmittelbar anschließend mit dem ebenfalls 1996 entstandenen „The Vertiginous Thrill of Exactitude“ zum Finale der 9. Symphonie von Franz Schubert ein Kabinettstück aus der Forsythe-Schmiede genießen, das klassische Musik durchgängig mit Tanz verbindet. Trotz der klingenden Namen von Yevgenia Obraszova, Olessya Novikova, Tatiana Tkachenko, Maxim Tschulin und Vladimir Shklyarov ergab sich aber aus all der Einzelvirtuosität kein solches Feuerwerk, wie es die St. Petersburger bei einer der „Terpsichore-Galas“ in München abgebrannt haben. Das zeigte: Auch Forsythes Werke wirken nur beeindruckend, wenn sie auf Hochglanz poliert sind, exakt und synchron getanzt werden.

Zum letzten Stück, „In the Middle Somewhat Elevated“ schreckt die Musik von Thom Willems auf mit Donnerhall. Zu seinem Sound entfaltet sich das Forsythe-Idiom voll, durch die ganze Gruppe der neun Tänzer. Immer wieder faszinieren die Raumaufteilung, mit der Forsythe im Spannungsfeld zu den anderen Tänzern ein Solo präsentiert, sowie die kleinen Zwischenschritte und legeren Abbrüche, die sich die St. Petersburger Tänzer gut angeeignet haben. Die gut geölte Maschinerie läuft aber teilweise etwas zu glatt und harmonisch statt mit aggressiver Explosivität. Der Sturz einer Tänzerin und ihre einige Sekunden anhaltende Verzagtheit wecken da den Eindruck, dass das Schild mit dem russischen „Ja“ aus „Approximate Sonata“ eine vorbehaltlose Haltung bezeichnet, aus der ein Tänzer sich mit Entschiedenheit der nächsten Sequenz hingeben muss. Mit einigen virtuosen Soli und einem Paar, das die Möglichkeiten spannender Counterbalancen erkundet, klingt es aus.

Der Forsythe-Abend, so wichtig er in seiner klugen Auswahl für die Entwicklung und das Selbstverständnis der St. Petersburger Tänzer ist, hat offensichtlich an Brisanz verloren und füllt mittlerweile das Mariinsky Theater nur noch mit Mühe.


Besprochene Vorstellung: 19. April

Kommentare

Noch keine Beiträge