„Eugen Onegin“ kontra „Onegin“: es lebe der kleine Unterschied!

Im Derby um den Tschaikowsky-Hauspokal siegt das Ballett 1 : 0 über die Oper

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München, 21/11/2007

Vor genau dreißig Jahren hatte im Münchner Nationaltheater Tschaikowskys „Eugen Onegin“ Premiere – in Rudolf Noeltes Inszenierung vielleicht die schönste und stimmungsdichteste von den rund zwei Dutzend verschiedenen Produktionen, die ich in den letzten sechzig Jahren von diesen viel geliebten „Lyrischen Szenen“ auf den Bühnen der Welt gesehen habe. Damals stand bereits seit fünf Jahren John Crankos Ballett „Onegin“ auf dem Spielplan des Hauses. Derzeit konkurrieren die beiden Werke – die Oper, die gerade in einer umstrittenen Neuinszenierung herauskam, und das Ballett, das an diesem Abend bereits seine 215. Vorstellung erlebte.

Puschkin und Tschaikowsky wären sicher nicht wenig erstaunt, wenn sie in diesen Tagen „Eugen Onegin“ in München sähen. Denn der junge polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski hat endlich den russischen Helden des Ennui als Schwulen geoutet. Onegin liebt Tajana nicht, weil – ja weil er Lenski liebt. Und weil der zu viel mit Olga flirtet, erschießt er ihn im Doppelbett irgendeines Motels in den Brokeback Mountains, als der sich gerade das Hemd auszieht. Offenbar aus Torschlusspanik wirft er sich am Ende dann doch noch Tatjana zu Füßen – zu spät. Das ist das Sorry-End der Geschichte.

Endlich wissen wir nun, was Puschkin und der einschlägig programmierte Tschaikowsky mit Onegin wirklich im Sinne hatte. In München ist Michael Volle als Onegin zwar ein ausgesprochener He-Man, aber man weiß ja nie, während man Christoph Strehl als Lenski schon eher zutraut bisexuell zu sein. Olga Guryakova allerdings ist als Tatjana eine so himmlisch reine Seele, dass sie von allen diesen finsteren Machenschaften nichts ahnt, während Elena Maximova schon im anfänglichen Karaoke-Duett beweist, dass sie mit den Praktiken des heutigen Showbusiness durchaus vertraut ist. Kent Nagano, Münchens Generalmusikdirektor, ließ es sich nicht nehmen, Tschaikowsky in dieser schrillen Show als einen durchaus heutigen Zeitgenossen zu vereinnahmen.

Ganz anders Myron Romanul, der der „Onegin“-Ballettvorstellung allen imperialistisch-zaristischen Glanz gab, der ihr gebührt – ihr und der prächtigen Jürgen-Rose Architektur, die auf der Bühne des Nationaltheaters ihre volle aristokratische Majestät entfaltet, wie denn überhaupt diese Vorstellung, die aus Anlass des Cranko-Jubiläumsgeburtstags nachdrücklich an seine zwar kurze, aber bis heute nachwirkende Liaison mit der Isar-Metropole erinnerte. Und so wurde es wahrlich eine Festvorstellung, die alles um eine Nummer größer als gewohnt erscheinen ließ: absolute Weltklasse, mit der das Bayerische Staatsballett zum internationalen Ranking des 1. FC Bayern aufschloss.

Bleiben wir auf dieser Vergleichsebene, so bereiteten Roberta Fernandes und Lukas Slavicky als Olga und Lenski ganz ohne Kinkerlitzchen gleich im ersten Bild mit ihren hinschmelzend schönen Ritardandi im Pas de deux das Tor vor, das dann Lucia Lacarra und und Marlon Dino zielgenau im zweiten Bild mit dem Spiegel-Pas-de-deux schossen. Der entwickelte sich geradezu als ein Musterfall romantischer Dämonie, in dem Cranko entschieden über Puschkin und Tschaikowsky hinausging. Wobei sich Lacarra in einen Fiebertraum ihres Begehrens hineinsteigerte, von ihm zu immer lustvolleren Ekstasen getrieben, ein Teufels-Paganini, der mit seinem langen Körper wie auf einer Violine spielt. Dabei sieht er aus wie ein junger Karl Musil und tanzt, als ob er von einem Dämon des wiederauferstandenen Donald MacLeary vorwärtsgepeitscht würde. Zusammen bilden die beiden ein Traumpaar von hierzulande vergleichsloser aristokratischer Noblesse. Sie stehen an der Spitze eines Ensembles, das mit dieser „Onegin“-Produktion überall in der Welt reüssieren kann. Und retten so tänzerisch die Ehre Puschkins und Tschaikowsky, die die überkandidelten „Eugen Onegin“-Aufführungen auf der gleichen Bühne so leichtfertig zeitschickbewusst aufs Spiel setzen.

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