„Der verlorene Sohn“ eröffnet das Domfest in Halberstadt

Kirchentanz gegen Kriegsgewalt

Halberstadt, 05/06/2007

Zwischen schlank aufragenden Säulen mit ihrem Figurenschmuck, Kanzel und gotischem Lettner steht unter metallenem Rundleuchter schwarz das Podium. Noch lastet schräg über der Szene ein weißes Tuch mit der Projektion einer Pietà. Die Glocken von St. Stephanus läuten das diesjährige Halberstädter Domfest und die Aufführung ein. „Der verlorene Sohn“ greift nicht auf das alttestamentarische Gleichnis zurück, sondern meint symbolhaft jeden gewaltsam zu Tode gekommenen jungen Mann. Paul Hindemiths karge Rilke-Vertonung „Mariä Verkündigung“ eröffnet die szenische Aktion. Von weit hinten unterm Orgelprospekt schreitet die Sängerin auf die Bühne zu, entfaltet in der prachtvollen Kirchenakustik ihren Sopran. Als das Bühnentuch aufreißt, liegt dort die Mutter. Zum 1. Satz von Henryk Góreckis per Tonband eingespielter „Sinfonie der traurigen Gesänge“ (1977) fühlt sie ein Kind in sich werden; als Jesus-Knabe liegt es bald unter dem fortgezogenen Tuch, erleidet in Stationen sein Schicksal.

Textgrundlage der orchestral umspielten Sopranpassage auf dem Band ist ein im 15. Jahrhundert verfasstes Klagelied aus einem polnischen Kloster. Halberstadts Ballettchef Jaroslaw Jurasz erzählt dazu mit klassischem Tanz und wiederkehrender Handgestik von Sendungsbewusstsein, Kreuzestod, Grablegung, Beweinung, bis die andere, anwesende Sängerin über eine lebende Pietà das weiße Tuch breitet, als wolle sie das Geschehen fortwischen. Eindringliche Bilder der bekannten Geschichte sind dem Choreografen gelungen, von der Liebe zwischen Mutter und Sohn, vom Leid der Ahnenden. Drei Herren in oberkörperfreien, aktiv in den Tanz einbezogenen Röcken grundieren, multiplizieren den Sohn, tragen den Toten. Einer ist das Kreuz, das der Sohn zu tragen hat und an dem er endet - als Schatten hinter, als lebende Plastik vor dem Tuch. Allmählich hat sich dabei die Musik aus der anfänglichen Streicherdüsternis zu raumauspannender Dichte und Lichtheit emporgeschwungen. Derweil in der Stille unterm Tuch Gestalten wabern, erklingt - wieder live - Hindemiths Rilke-Lied von der „Pietà“. Tracht und Haube trägt nun die Sängerin.

Zum 2. Satz, dem das polnische „Ave Maria“ zugrundeliegt, wie eine Helena es 1944 in Zakopane an die Wand ihrer Gestapo-Zelle schrieb, erscheint barfuß jene historische Gestalt. Sie hängt an langem weißem Stoffband, Nabelschnur oder Fessel, das in einer Gesichtsverhüllung endet, die auch Gasmaske sein könnte. Solidarisch und tröstend verflicht sie sich in ein Trio mit zwei weiß geschminkten Seelen, die ihre Fessel lösen und zum Tuch entwirren, hinter dem Helena sich frei fühlen kann, einen Wellen schlagenden Fluss daraus formen, ihr den Stoff als Brautschleier umlegen, sie schließlich unsichtbar darunter entschwinden lassen. Choreografiert hat diesen zentralen Satz Denis Detournay für drei Tänzerinnen seiner Kompanie „Pour l’instant“ aus Belfort, Halberstadts elsässischer Partnerregion. Wie sparsam und emotional Detournay seinen Tanz entlang der atmosphärischen Musik in ihrem schwebenden Dauer-Adagio entwickelt, wie unabhängig dennoch seine Bilderfindung bleibt, macht diesen Teil zum Erlebnis. Er bezieht seine Verinnerlichung einzig aus der stilisierten Form, ohne jenes bei Jurasz so störende Grimassieren.

Der Text zu Satz 3 basiert auf einem Volkslied im Dialekt der Region Opole um einen toten Sohn. Entsprechend thematisiert dieser von beiden Choreografen entworfene, von allen elf Mitwirkenden getanzte Schlussteil mit vier Müttern den Schmerz um gefallene Soldaten. Die ziehen, grün gewandet, immer wieder als Prozession über das Podium und durch den Kirchmittelgang, tragen ihre Botschaft dicht an den Zuschauer heran, machen ihn zum Komplizen im Kampf gegen Gewalt und Krieg. In Aussage und Form profitiert dieses Finale von seiner choreografischen Zweifaltigkeit, erfindet beredte Szenen, ehe Mütter und Sängerin ihr Leichentuch über die erschossenen Soldaten ziehen. Wohin ihr geliebter Sohn gegangen sei, zürnt die Sängerin, als sie zurück zum Ausgangspunkt ihres Weges schreitet.

Antonín Dvoráks „Stabat mater“ und der 1. Teil aus Kurt Weills „Weg der Verheißung“, einer Gemeinschaftsproduktion aller Sparten des Nordharzer Städtebundtheaters, folgten dem nachwirkenden Auftakt des dreitägigen Domfests.

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