Premieren des 21. und 19. Jahrhunderts

„Der Ring“ von Alexej Miroshnichenko und „Das Erwachen der Flora“ von Marius Petipa/Lev Ivanov

St. Petersburg, 16/04/2007

Auch der zweite Festivalabend am 13. April begann mit Balanchines „Apollo“, alternierend getanzt von Andrian Fadeyev, und wieder ging dem neuen Petipa-Ballett (!) eine brandneue Choreografie von Alexej Miroshnichenko voraus, dieses Mal „Der Ring“. Das von ihm selbst geschaffene Bühnenbild zeigt ein nach vorn offenes Quadrat aus Stangen, angeordnet wie die Seile eines Boxrings, vor denen sich in Ballettklamotten (Kostüme: Tatjana Mashkova) vier Tänzer räkeln. Die Auftragskomposition der St. Petersburger 2H Company beginnt mit einer Geräuschkulisse aus Verkehrslärm und Gesprächsfetzen, und die Choreografie reflektiert den morgendlichen Arbeitsalltag. Mit dem Einsetzen elektronischer Musik fällt auf die schwarze Bühnenfläche ein Lichtstreifen (Beleuchtung: Vladimir Lukasevich), auf dem ein sich durch Anzug und Ringelhemd abhebender fünfter Tänzer (Anton Pimonov), in dem der Choreograf sich selber spiegelt, Armbewegungen ähnlich denen der Schlammfrau in „The Second Detail“ exerziert, nur härter und schneller. Der Lärm bekommt Hip-Hop-Rhythmus und ebbt ab. Die vier Tänzer finden zum gemeinsamen Exercise zusammen, der Choreograf zeigt einzelnen Tänzern, anfangend bei Daria Pavlenko, kurze Sequenzen, in die er seinen eigenen Tanz fragmentiert.

Dann bekommt erstmals ein männlicher Tänzer (Mikhail Lobukhin) Freiraum für virtuose Sprünge. Es folgen Pavlenkos dynamisierter Tanz auf Spitze und eine Kombination lasziver Posen und klassischer Virtuosität, von der langbeinigen Viktoria Tereshkina so kokettierend wie scharf in den Boden gestochen. Bei allen führt die Fragmentierung der klassischen Abläufe, wie wir das von Forsythe kennen, zur Beschleunigung. Pas de deux-Ausschnitte analysieren, was ein Tänzer (Alexander Sergeyev) beim Partnern leistet und wie die Tänzerin – dieses Bild wird für den Sachverhalt deutlich – durch den Feuerreif der Partnerarme springt. Weiterhin werden hochvirtuose Batterien und verfremdete Arabesken in ungewohnte Zusammenhänge gestellt, bis es Tereshkina einfach reicht: Sie kickt mit vollendet schöner Spitze den Choreografen von der Fläche. Als der zurückkommt, ist er wütend: Weg mit den andern! Zu nonverbaler Hip-Hop-Lyrik entwickelt er seinen Zornausbruch aus einer Tanzpantomime zur akrobatischen Bewegungsclownerie, während die Musik zum Comic-Sound mutiert, einem im ehrwürdigen Mariinsky Theater nie da gewesenen Lärm!

Doch dem konnten die Zuschauer ihr begeistertes Gelächter nicht verweigern, bis sich der wildgewordene Choreograf wieder sammelte und an die Ballettstange zurückfand. Murrend begeben sich die Tänzer dann zum Rap hektisch gesprochener Nachrichten wieder in die Fesseln der klassischen Technik. Wenn zwölf weitere Tänzer hinzukommen, dringen in die Übungssequenzen, die sie nun unisono hinter dem Choreografen ausführen, wieder neue Elemente aus Kung-Fu und dem brasilianischen Capoeira ein, mit Latinofärbung in Sound und Lyrics. Langsam scheint sich der Kreis, der klassische Virtuosität und authentisches Leben umfasst, zu schließen. – Das ist „Der Ring“, der klar beweist: Das Mariinsky Theater ist im 21. Jahrhundert angekommen. Das Engagement von William Forsythe in St. Petersburg (2004) trägt Früchte: Rhythmischer Applaus, Begeisterung und nahtloser Schulterschluss klassischer Stars mit der Experimentierfreude des Contemporary Dance.

Seit Jahrzehnten füllt ein Kanon von acht Petipa-Balletten die Opernhäuser der Welt. Sollte mit „Das Erwachen der Flora“ aus dem Jahr 1894 ein neues dazukommen, das auch dazu tauglich ist? Mit der Rekonstruktion war Sergei Wicharev beauftragt, der die Serie der Rekonstruktion von Klassikern 1999 mit „Dornröschen“ begonnen und mit dem Rückgriff auf die Stepanov-Notate in Harvard einen Trend gesetzt hat, die Partitur von Riccardo Drigo hatte Lyudmila Sveshnikova aufbereitet. Es begann mit vertrauten Drigo-Klängen, schmetternd, volltönend und dann munter schwebend. Die heitere Untermalung mit ihren Tuschs und Trommelwirbeln wurde präzise, spannend und sensibel von Pavel Bubelnikov dirigiert. Und schon das Eröffnungsbild eines winterlichen Morgens mit vier schlafenden Blumen erhielt Applaus, noch ehe Diana (Svetlana Ivanova) mit Silbermond im Haar in einem Marathon auf Spitze mit Arabesken für die Richtungswechsel zwischen ihnen schwebt.

Dann flattert der warme Wind Zephyrus (Vladimir Shkliarov) mit Schmetterlingsflügeln hinein und haucht der ersten Blume, Flora (Yevgenia Obrasztsova), Leben ein. Acht Nymphen in blauen Tuniken mit goldenen Amphoren scharen sich im Pas de basque in bester Corps-Manier um Flora, die eine kurze Variation tanzt, und schon weckt im rosa Tutu mit goldener Sonne als Kopfputz die virtuose Xenia Ostreikovskaya als Aurora auch die andern Blumen auf. Ihr Duett mit Obrasztsova war ein einziges Dahinschweben und Aufblühen mit der Musik und setzte sich im Walzer durch das Corps der Amphorenmädchen sowie die Soli beider fort. Kein Wunder, dass davon Apollo (Maxim Chashchegorov) in seinem weiß-goldenen Kostüm angezogen wird, der mit Hilfe von Cupido (Valeria Martynyuk) und dessen Amouren (sechs zehnjährige Studenten der Waganova-Akademie) Floras Begegnung mit Aquilon (Islom Baimuradov) arrangiert. Der glänzt in feinsten Batterien, ehe Obrasztsova mit überlegen verspielter Phrasierung ihren unglaublichen Zauber entfaltet.

Man hat das schon viele Male ähnlich gesehen, und möchte es doch immer wieder sehen, zumal in dieser kaum einmal erreichten Qualität. Wenn dann gar ein ganz neues Stück für das Repertoire hinzugewonnen wird, ist das für die Ballettwelt eine Sensation. Bei dieser Premiere wurde die Lächerlichkeit des Anachronismus, sich im 21. Jahrhundert einem anakreontischen Ballett zu widmen, in den Schatten des hell leuchtenden Metiers gestellt. Was dieses Wunder ermöglicht, ist einzig und allein der Stil und der damit gegebene hohe Formalisierungsgrad, der vermutlich nur durch die Homogenität und Virtuosität dieses St. Petersburger Ensembles erreicht werden kann. So wurde denn sogar, als nach der Ankunft des Merkur und des Dionysos (im Programmheft allerdings als Ganymed ausgewiesen) ältere, beleibte Jünger des Weines einen schneeweißen frühlingshaften Ziegenbock über die Bühne führten, wohlwollendes Vergnügen im Saal hörbar – und keiner muss sich dessen schämen, denn fast alles, was man hier sah, war reiner Tanz. Der hatte in seiner Einstudierung von Sergei Wicharev eine maßstabsetzende Anmut und brillante Klarheit, gegen die alles andere nur wie ein verlegener Ausweg erscheinen muss.

Der Rest sind Bilder, die zu unserem Bildungsgut gehören, über das Petipa souverän verfügt hat: Am eindrucksvollsten die Schluss-Apotheose mit Jupiter im Zentrum, umgeben von Juno, Mars, Venus, Pluto, Proserpina, Ceres, Vulkan – und wohl 100 Artisten des Mariinsky Theaters. Eine beglückende Lebendigkeit, ein großes, buntes Schlussbild, ein Triumph! Nachzutragen bleibt, dass das von Mikhail Shishliannikov rekonstruierte Bühnendesign und die aufwendig reproduzierten Originalkostüme von Irina Korovina zur schönen Bildhaftigkeit dieses Balletts viel beigetragen haben.

Außerdem bleibt zu diesem Festivalauftakt anzumerken, dass Balanchines „Apollo” am zweiten Abend mit Andrei Fadeyev und seiner Eleganz mehr glänzte und sich auch seine drei Musen besser präsentierten, während in „Flora“ die Zweitbesetzungen von Flora (Ekaterina Osmolkina), Aurora (Yana Selina), Aquilon (Karen Ioanisyan) und anderen eine leichte Einbuße bedeuteten. Doch welches Ensemble kann schon so viele fast gleichwertige Virtuosen einsetzen und aus eigener Provenienz über drei Jahrhunderte so wichtige Beiträge zum Weltballett zusammenstellen wie das Mariinsky Theater? Wenn dessen Kompanie einen ihrer Stars verliert, drängen gleich zehn ebensolche Talente nach. Eine solche Tradition, mit der kaiserlichen Ballettschule und später der Waganova-Akademie im Hintergrund, findet man nur in St. Petersburg.

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