Das Schlüsselwerk der zweiten Jahrhunderthälfte

Vor fünfzig Jahren erlebte Strawinsky/Balanchines „Agon“ seine Uraufführung beim New York City Ballet

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Stuttgart, 01/12/2007

Je weiter die Zeit voranschreitet, umso mehr wird uns bewusst, dass Igor Strawinskys und George Balanchines „Agon“, uraufgeführt am 1. Dezember 1957 vom New York City Ballet im New Yorker City Center (nach einer Benefiz-Vorpremiere am 27. November) unter den Balletten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – seien wir etwas großzügiger: unter den Balletten nach dem Zweiten Weltkrieg – eine Leuchtturm-Funktion hatte, die bis in unsere unmittelbare Gegenwart ausstrahlt.

Diese Sonderstellung wurde – erstaunlicherweise – von den führenden Kritikern sogleich diagnostiziert. So konstatierte John Martin in der New York Times am 2. Februar 1958: „Dies mag sehr wohl den Höhepunkt markieren, den wir erreicht haben in der Manipulation der lebendigen Anatomie der Choreografie“. Diese Überzeugung findet ihr Echo in den zahlreichen Kritiken, die über die Uraufführung erschienen sind (und von denen ein großer Teil in Nancy Reynolds nach wie vor unverzichtbarer Bilanz „Repertory in Review – 40 Years of the New York City Ballet“, New York 1977 abgedruckt ist). Balanchine selbst bekannte: „‚Agon‘ ist für mich der Inbegriff des zeitgenössischen Balletts. Strawinsky hat es speziell für uns komponiert ... Nach meiner Meinung, ist es sein – ist es unser – perfektestes Ballett, das eine totale Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und dem Choreografen repräsentiert“.

In Deutschland bekamen wir „Agon“ erstmals 1962 beim Hamburger Strawinsky-Festival aus Anlass seines 80. Geburtstags zu sehen – und es traf uns (nach „Apollon musagète“ und „Orpheus“ im gleichen Programm) wie ein Blitzstrahl, der uns einen Blick in die Zukunft offenbarte. Nach ein paar Einstudierungen des Balletts in eigenen choreografischen Versionen (europäische Erstaufführung von Otto Krüger 1958 in Düsseldorf) waren es dann Stuttgart und Hamburg, die sich erstmals 1970 bei uns an eigene Produktionen der Balanchine-Choreografie wagten – ohne dass das Ballett hierzulande je eine ähnliche Popularität gefunden hätte wie in Amerika.

Müsste ich mich für ein einziges Balanchine-Ballett entscheiden, würde meine Wahl – so schwer sie mir auch fiele, denn meine Favoritenliste umfasst mehr als ein halbes Dutzend seiner Arbeiten, darunter unbedingt „Concerto Barocco“, „Sinfonie in C“ und „Vier Temperamente“ – wohl auf „Agon“ fallen, als Modellfall eines partnerschaftlichen Dialogs zwischen Musik und Choreografie wie als Musterexemplar klassischen Formbewusstseins. Kirstein hat auch in diesem Fall alles Wesentliche zusammengefasst, wenn er „Agon“ attestierte: „Kein tänzerisches Werk ist so hochgradig organisiert oder so dicht in seiner Bewegung gewoben in seinen kaum zwanzig Minuten. Doch die Uhrzeit steht in keinem Verhältnis zu seiner visuellen Dauer: es gibt mehr konzentrierte Bewegung in ‚Agon‘ als in den meisten Abendfüllern des 19. Jahrhunderts.“

 

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