Aufbruch in eine neue Dimension

Im Ballett-Fokus: Philipp Egli, Hans van Manen und Martin Schläpfer

oe
Mainz, 30/03/2007

Die achte Vorstellung des 23. Programms der Mainzer Ära Schläpfer, das am 3. März Premiere hatte (und hier am 5. März von Angela Reinhardt besprochen wurde: „Sterbende Schwäne“). Acht Vorstellungen des neuen Abends in einem Monat (vier weitere sind bis Spielzeitende vorgesehen) – das soll hierzulande erst mal eine andere Stadt nachmachen! Die Ballettbegeisterung der Mainzer ist ungebrochen: das zeigte sich auch an diesem Freitagabend wieder.

Drei Ballette also, zwei Uraufführungen von Philipp Egli, dem Ballettchef von Sankt Gallen, und Martin Schläpfer, dem Mainzer Hausherrn, und als deutsche Erstaufführung Hans van Manens gerade vor Jahresfrist fürs Het Nationale Ballet in Amsterdam kreierte „Frank Bridge Variationen“. Am Pult des Philharmonischen Staatsorchester die Mainzer Generalmusikdirektorin Catherine Rückwardt höchstpersönlich. Das zahlte sich musikalisch aus – tänzerisch sowieso.

Eglis „Space. Distance. Measure“ zu zwei unterschiedlich inspirierten Soloviolinsonaten von Eugène Ysaye, auf der Bühne gespielt von Ingolf Turban, dazwischen vom Band ein sehr „Lohengrin“-timbriertes Streicherstück des Amerikaners Aaron Jay Kernis. Das Ganze eine etwas lang geratene, improvisatorisch anmutende Plaisanterie, ein harmloses Stolper- und Wegknick-Stück, lauter tänzerische Aperçus, die sich indessen nicht zu einem Ganzen verdichten wollen. Viel Herumgerenne, das eine geheimnisvolle Logistik erahnen lässt, denn die achtzehn Tänzer kommen sich zwar laufend in die Quere, aber es gibt keine Zusammenstöße. Wenn man bei den Musikern vom Stimmen ihrer Instrumente spricht, ist man hier versucht, vom Stimmen der Körper für die gewichtigeren folgenden Choreografien zu sprechen.

Denn die sind strikt durchstrukturiert, van Manens „Frank Bridge Variationen“ (bereits oft choreografiert – siehe John Cranko, Alan Carter, Walter Gore und John Neumeier) als formgestylter Essay für zwei Solo-Paare und drei Demi-Solo-Paare (von Keso Dekker in gewohnter schnittiger Eleganz ausgestattet) – und Schläpfers „Pathétique“ zu Tschaikowskys sechster Sinfonie in h-moll für die ganze Kompanie. Van Manens Studie, in seinem wohl bekannten Idiom, schnurrt ab wie ein Uhrwerk – aber ganz und gar nicht mechanisch, sondern wie ein Uhrwerk, das lebt – auf ganz wunderbare Weise lebt und atmet. Es erzählt lauter fein ziselierte Geschichten – aber die sind so wunderbar, dass man sie nicht nacherzählen kann. Es sind Geschichten ohne Worte (wie Mendelssohns „Lieder ohne Worte“), dafür voller Gefühle, zärtlich-seren mit einem ganz nach innen gerichteten Lächeln und vielen ganz stillen Momenten. Es ist ein Ballett über das Lächeln der Engel – von Engeln, die Menschen geworden sind. Die Mainzer tanzen das, dass man hinschmelzen könnte von so viel zarter Schönheit.

Und dann also der Brocken der „Pathétique“: ein sinfonisches Ballett der großen Tableaux – ganz anders als die ja sehr unterschiedlich ambitionierten sinfonischen Ballette von Massine oder Balanchine – von den sowjetischen Tanzsinfonikern à la Goleisowsky und Belsky ganz zu schweigen. Ein Ballett über den Pathetiker Tschaikowsky – aber ganz und gar kein anekdotisch-biografisches Dokuballett, wie sie Breuer, Eifman, Kajdanski und Sutherland jüngst geliefert haben. Tschaikowsky anonym – als Tänzer in der Gestalt von Jörg Weinöhl so dominierend, dass man ihn für einen Bruder Rasputins halten könnte. Als Herrscher über einer Welt, die ein einziger Kosmos aus Schwänen zu sein scheint – androgyner Schwäne, ebenso weit entfernt von Petipa und Iwanow wie von Matthew Bourne und Stefan Thoss.

Dies ist die Abstraktion des Schwanen-Mythos, wie ihn Peter Stoneley jüngst in seiner „Queer History of the Ballet“ beschrieben hat. In die man alle möglichen Assoziationen aus Tschaikowskys Leben hineinlesen kann – aber man liest sie wirklich auf eigene Gefahr in den Ablauf der Choreografie hinein und nicht heraus. Was man sieht, ist Tanz gewordene Musik – ihr Gehalt, ihre Substanz, nicht ihre Form, nicht ihre Struktur, nicht ihr stilistisches Erscheinungsbild, nicht ihre akustische Triebkraft. In seiner „Pathétique“ geht Schläpfer wie ein Pionier auf die Suche nach einer tieferen Dimension der Musik – wie sie vor ihm noch keiner seiner choreografischen Kollegen erschlossen hat.

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