Zukunfts-Gestalter
Vertragsverlängerungen bei der Bayerischen Staatsoper und beim Bayerischen Staatsballett
Dreimal „Giselle“: Wer hätte gedacht, dass das so aufregend sein kann, selbst wenn es vom Ballett des St. Petersburger Mariinsky Theaters getanzt wird? Im November hatte das Petipa-Jahr des Bayerischen Staatsballetts mit guten Vorstellungen seiner Version von Sir Peter Wright begonnen, nun konnte man wieder neue Erfahrungen machen. Das Mariinsky-Ballett tanzt Petipas „Giselle“ in einer Rekonstruktion Yuri Slominskys aus dem Jahr 1978 im Tournee-tauglich einfachen Bühnenbild von Igor Ivanov. Die leuchtenden Farben der Kostüme von Irina Press lassen die ganze Ausstattung sehr russisch wirken, d. h. plakativ klar, in einem guten Sinn theatralisch, und das Orchester des Mariinsky Theaters, geleitet von Alexander Polianitschko, spielte die Musik Adolphe Adams überraschend hart umrissen, sodass es einer Gewöhnungsphase bedurfte, um sich dem Fluss der Melodien anzuvertrauen.
Die Besetzungen blieben außer für das Hauptpaar an allen drei „Giselle“-Abenden identisch. In der Titelrolle begann Olesya Novikova, eine junge, technisch komplette Tänzerin, die mit dezent-natürlichem Spiel überzeugt, indem sie in die Imagination geht und daraus stilisierend gestaltet. Bei allem Charme zeigte sie immer die choreografische Architektur sehr deutlich und verlor selbst bei schnellen Pirouetten nie ihre Legato-Qualitäten. All dies kombinierend, deckte sie auch in Giselles Sterbeszene, die sie aus ruhiger Konzentration gestaltete, leicht zu übersehende Kostbarkeiten der Choreografie auf, z.B. dass Giselle den entlarvten Prinzen, wenn sie ihrer Liebe zu Albrecht noch einmal nachgeht, in der gleichen Weise verfehlt wie er später sie, wenn sie im Wald der Wilis nur noch in seinen Gedanken existiert.
Leonid Sarafanov trug als Albrecht, der mit schwierigsten Sprüngen das tänzerische Niveau noch weiter steigerte, zum Drama des Paares wenig bei, stützte aber mit seinen stets beeindruckend reinen Posen den hohen Formalisierungsgrad der Darstellung. Dazu trug auch die traditionelle russische Pantomime bei, mit der Islom Baimuradow den Hilarion gab: Was manchmal wie gestanzt wirkt, entwickelte er gestützt von der Musik zu einem dramatischen Rezitativ, das meines Erachtens naturalistischeren Darstellungsweisen überlegen ist.
Doch nun zur eigentlichen Sensation, dem St. Petersburger Ensemble! Zuerst tritt es in der Einlage des Weinfestes in Aktion, in dem der integrierte Bauern-Pas-de-deux mit der drehfreudigen Valeria Martinuc und besonders mit Vladimir Shklyarov, der mit zweifachen Double-Tours glänzte, gut besetzt war. Das Corps de ballet tanzte hier in makellosen Linien wie e i n Körper, der in zwölf junge Winzerpaare plus acht Winzerinnen geteilt ist, mit völlig homogener stilistischer Geschlossenheit. Da war jeder Schritt glasklar, wurde nichts weichzeichnerisch verwischt, und man sah exemplarisch das Potenzial eines wirklichen „Corps“. Solch eine Einheit wirkt stärker als alle Bereicherungen durch individuelle Nuancen und passt zur hohen Stilisierung eines Ballettdramas besser als westliche Alternativen. Doch möchte man wohl lieber nicht fragen, um welchen Preis diese in „demokratischeren“ Kompanien unerreichbare Dimension erreicht wird.
Dieses vollendete Corps de ballet also machte im Zusammenspiel mit den Solisten den Weißen Akt zu einem mitreißenden Drama, in dem die Wilis entweder einen geschlossenen Kreis von Rachegeistern oder unerbittlich harte Linien zogen. Welch ein Aufgebot von 24 langgliedrigen, gertenschlanken Idealfiguren, dirigiert von Tatyana Tkachenko und Xenia Ostreikovskaya, die als Moyna und Zulme mit ernster Würde in ihren präzisen Variationen überzeugten. Beherrscht wurden sie alle von Viktoria Tereshkina als Königin der Wilis. Auch sie offenbarte ein größeres Wissen um die Bedeutung jedes einzelnen Schrittes, als es bei uns üblich ist. Ihre Größe, Virtuosität, Präsenz und Taktgenauigkeit ergaben eine majestätische Myrtha. Sich kühl in die Musik dehnend, wurde sie zum eleganten Dämon einer in ihrer verdeckten Leidenschaft getäuschten Powerfrau. Auf dieser Basis verliehen Olesya Novikovas zauberhaft leicht getanzte Anmut und Leonid Sarafanovs modellhafte Positionen und spektakuläre Sprünge Petipas genialer Szenenfolge hochdramatische Spannung.
Noch leichter wirbelte am zweiten Abend Ekaterina Osmolkina als Giselle über die Bühne. Auch ihr muss vor keiner tänzerischen Schwierigkeit bange sein. Allerdings forcierte sie im 1. Akt ihre Darstellung zu klischeehaft und war später zu sehr ein Windspiel, als dass sie Novikovas Zauber hätte entfalten können. Ihr Partner Andrej Fadejew agierte nicht ganz so spektakulär und jungenhaft wie Sarafanov, gab aber stilsicher der Figur des Albrecht künstlerisch mehr Gewicht und veranschaulichte stärker dessen innere Zerrissenheit. Beiden Besetzungen war gemeinsam, dass es für sie zur Darstellung dazugehört, ihr Medium, die klassische Technik, jederzeit deutlich auszustellen.
Begleiten wir abschließend Ulyana Lopatkina, die in Russland, wo das Ballett für die kulturelle Identifikation eine erste Rolle spielt, als Nationalheiligtum gilt! Ihr Partner Igor Kolb, reifer als die vorigen, gestaltete den impulsivsten Albrecht, vermied jedes darstellerische Klischee und zeigte die intensivste Aktivität im Eroberungsflirt. Lopatkina hatte noch mehr Luft unter ihren Füßen, noch mehr Getragenheit durch die Musik in ihrem Spiel und machte wie keine andere klar, dass es mit Giselles erstem Blick auf diesen Mann um sie geschehen war. Auch in der Folge klar und frisch in ihren Reaktionen, setzte sie in ihrer glücklichen Hingabe an ihn in Musikalität, Stil und emotionaler Mitteilung höchste Maßstäbe, und bot den reichsten Subtext der Choreografie. Wie ihre Giselle sich, wissend um ihre Gefährdung durch den Tanz, gegenüber Bathilde subtil zurückhielt, ab Albrechts Erscheinen bei den Winzern aber wieder tanzen wollte und das Adagio genoss, um dann zu wirbeln, wie das Winzerfest nahtlos in das Drama eingebunden war, wie Albrechts Entlarvung durch Hilarion ins offene Herz traf und ein leichter Schritt von ihm zur Seite alles verriet, berührte tief. Dann imaginierte Lopatkina den hinter ihr liegenden Weg ihrer Liebe ohne gelöstes Haar und Wirrnis: Wehmut, das machte diese apollinische Künstlerin ergreifend klar, genügt, um ein empfindsames Herz zu brechen.
Im 2. Akt beendete Lopatkina ihre hochkonzentrierte Auftrittsvariation mit einer lang balancierten Arabeske. Dann tritt, gebrochen durch seine Schuld, der Prinz auf. Über Hilarion triumphieren die Rachegeister bekanntlich und hüpfen davon, um im nächsten Moment Albrecht vor ihr Tribunal zu ziehen. Lopatkina hob vor ihm die Arme zum Kreuz und begann die lange Geisterstunde des Pas de deux mit einem in heiliger Nüchternheit getanzten Adagio. Ihre Sammlung des Gedanklichen, transponiert in die in jeder Phase sorgsam elaborierten Bewegungen, war jenseits aller tänzerischen Virtuosität höchste Kunst.
Ein Großereignis für München und seine von Ivan Liska ausgerufene Petipa-Spielzeit, das die Zuschauer mit einem zum dritten Mal ausverkauften Prinzregententheater würdigten. Am gleichen Abend war auch die „Le Corsaire“-Vorstellung von Petipa/Liska im Nationaltheater bis zum letzten Platz gefüllt! Es bestand sogar, wie eigentlich nur für die Petipa-Gala am Folgetag zu erwarten war, für alle Vorstellungen eine weit höhere Nachfrage.
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