Im Tanz kann ich mir vertrauen

Berliner Schüler und Profis fragen in den Sophiensaelen „Wer hat Angst vor Tanz?“

Berlin, 09/12/2006

Der Titel von Livia Patrizis neuer Produktion in den Sophiensaelen klingt so, als wäre er lautmalend der Sprechblase in einem Comicstrip entnommen. Dabei steckt hinter „W.H.A.V.T.?“ einfach die Frage „Wer hat Angst vor Tanz?“, womit die Initiatorin des begeistert angenommenen Projekts „TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen“ sich selbst treu bleibt. In der 90-minütigen Collage ihrer Kompanie Talking Legs verschmilzt sie sechs Profis und sieben Amateure derart zu einer Einheit, dass man am Ende kaum mehr weiß, wem man lieber zusieht.

Tanz ist hierbei wieder Mittel, um Jugendliche über ihre sozialen Befindlichkeiten nachzudenken zu lassen. Kennengelernt hat Patrizi die vier Jungen und drei Mädchen, fast alle mit Migrationshintergrund, durch das Education Programm der Berliner Philharmoniker respektive bei ihrer „TanzZeit“-Arbeit. Ein in Sequenzen eingespieltes Video, auf dem die Schüler freimütig zu den Themen Körper – Zukunft – Vertrauen Auskunft geben, bildet das Rückgrat des Stücks.

Rings um die Spielfläche sitzen die sechs Profis, jeder unter einer Stehlampe in seinem kleinen Idyll. Jorge Morro platziert zwei Puppen unter den Zuschauern und erzählt ihnen Skurriles aus seinem Tänzeralltag. Auf einem roten Punkt produzieren und verdrängen sich singend oder tanzend Angharad Davies, Anat Vaadia, Hans-Georg Lenhart, Nicky Vanoppen und Jean Marc Lebon. Über Lenhart, der mutig immer wieder seine klassische Armführung probiert, kichern die anderen. Mut beweisen auf der Leinwand auch zwei Jungen, die vehement ihren Tanz verteidigen: Ich habe ja sonst nichts. Diese Interviewaussagen werden zum Auslöser für tänzerische Aktion der Profis oder führen darauf hin. Ich habe Vertrauen gewählt, sagt Lenhart, weil ich gerade keins habe. Die Jugendlichen, befragt zu jener Themen-Trias, beklagen Orientierungslosigkeit, mögen über ihren Körper erst nicht sprechen, haben Probleme mit den Eltern, fühlen sich abgelehnt. Vom Film träumen sie, überhaupt von einem Beruf, wünschen sich eine Familie, haben Ängste wie Verfolgtwerden: Beim Tanzen geht das weg.

Die Choreografin findet dafür stimmige Bilder, von der Auslese beim Vortanzen, vom gegenseitigen Stützen, Austricksen, Fallenlassen, von Schikane, Gewalt, Zärtlichkeit. Mit Witz macht sie mittels singender Speckfalten klar, dass ohne Selbstakzeptanz nichts geht. Die stärksten Momente entstehen, als sich die interviewten Teenager unter die Profis mischen und die Szene mit ihrer Energie aufladen. Gemeinsam wird getrommelt und getanzt. Ein amüsantes Battle zu Brahms’ bekanntestem Ungarischen Tanz ist auch choreografisch der Höhepunkt eines Abends, der speziell das geballte Talent der Jungen ausstellt. Tanzen brauche er wie Essen und Trinken, hatte einer gesagt. Bewiesen haben das auch die anderen.

 

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