Solidarischer Versöhnungs-Brückenschlag

Der Abschlusstag der Tanzplattform

oe
Stuttgart, 27/02/2006

Noch einmal auf die höchste Plattform des Tanzaussichtsturms am Pragsattel gestiegen für einen Blick aus der virusfreien Vogelperspektive. Und da die Sicht an diesem letzten Tag des Festivals besonders gut war, tauchten am fernen Horizont sogar Nürnberg, Mannheim und Saarbrücken auf. Und über Stuttgart hatte sich der anfangs noch dräuende Nebel gelichtet, verursacht durch die krankheitsbedingte Absage der Uraufführung eines Pas de deux von Christian Spuck für Alicia Amatriain und Jason Reilly, von dem sich die Veranstalter ein bisschen Extraglamour erhofft hatten. Dafür war Marco Goecke da mit einem Solo für William Moore, der wie ein außer Rand und Band geratener Feuerwerkskörper über die Bühne stob. Und so gab es am letzten Abend noch den solidarischen Versöhnungs-Brückenschlag zwischen Avantgarde und Establishment, denn aus den drei genannten Städten waren die Ballettkompanien zur Stuttgarter Gala angereist, Fuß bei Fuß, frei nach der Devise dieser Tage: ein einig Volk von Tänzer/Innen sollt ihr sein!

 Zuvor hatte es am Nachmittag freilich noch einen Abstecher in eins der Kuriositätenkabinette des Festivals gegeben: einen Auszug Xaviers Le Roys aus seinen „Mouvements für Lachenmann“, annonciert als Inszenierung eines Konzertabends. Dazu erschienen zunächst zwei Gitarristen, die sich hinter Paravents begaben, gefolgt von zwei Darstellern, die auf Stühlen davor Platz nahmen. Und während aus dem Off hinter den Paravents Lachenmanns pointilistische Gitarrentöne den Raum erfüllten, praktizierten die beiden Artisten vorn die Luftnummer eines Spiels ohne Instrumente, dass man sich je nach persönlicher Phantasie einen Flamencotanz ohne Unterleib darunter vorstellen konnte – oder den Grundkurs einer Physiotherapie zur Behandlung einer Sehnenscheidenentzündung. Höchst virtuos und abwechslungsreich. Und als eine Art Meisterklasse für Choreografen in der Abteilung Port des bras zu empfehlen!

Dann also waren Daniel Kurz und ihre famosen Nürnberger Siebzehn mit Ausschnitten aus „Zooming 3: Im Auge des Kalligrafen“ an der Reihe. Zuerst mit einer weiß gekleideten Equipe, die eine Art Kung-Fu-Training zu absolvieren schien, dann als schwarz gewandete Mönche bei ihrem täglichen Exercice für ihre Kalligrafie-Ordination. Sehr fremdartig, aber formidabel und jedenfalls ausgesprochen faszinierend. Danach, als Kontrast höchst willkommen, Goeckes „Äffi“ – nichts Äffisches, sondern die Studie eines jungen Mannes, dem man eine Ladung Dynamit implantiert hat. Eine Implantation wie am Abend zuvor bei Meg Stuart – bloß dass wir da die Veränderung à la Francis Bacon nur per Video zu Gesicht bekamen. Hier indessen auf offener Bühne vollzogen – von William Moore als Cyberix wie unter Megastrom stehend exekutiert. In einem Solo, das für ihn das werden könnte, was für die Pawlowa der „Sterbende Schwan“ war (keine Anspielung an das tödliche Virus der Vogelgrippe beabsichtigt).

Und dann also Mannheim mit Kevin O‘Days Verschnitt aus Bachs „Brandenburgischen Konzerten“ als Kammertanz für zwölf Solisten plus Extra-Star (Luches Huddleston Jr.). Brandenburg hier sozusagen kurpfälzisch aufbereitet – weit entfernt von der strukturellen Strenge eines „Concerto Barocco“, in Paul Taylor-Nähe angesiedelt, eine gut gelaunte Sprung-Tollerei, Bach nicht unbedingt zum Schlemmen, eher zum Slimmen. Unweigerlich die Tänzer und das Publikum anmachend. Und zum Sinnieren einladend, was denn wohl John Cranko als Schöpfer der in Stuttgart nie zu sehenden „Brandenburg Nos 2 and 4“ fürs Royal Ballet zu dieser ganzen Stuttgarter „Tanzplattform Deutschland 2006“ gesagt hätte! Ich muss gestehen, dass mir vor lauter Höhenluft ganz schwindelig zumute wurde und ich auf die Erde meiner Stuttgarter Seniorenexistenz zurückmusste und deswegen die Grenzgänger des Saarbrücker Staatstheaters mit Marguerite Donlons „Blind Date“ verpasst habe. Ever so sorry!

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