Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe

Sasha Waltz & Guests gastieren mit „Gezeiten“

oe
Stuttgart, 24/02/2006

Jedem das Seine! Und so den Wienern für ihre Nacht der Nächte den Opernball. Und den Stuttgartern simultan die Eröffnung der Tanzplattform Deutschland im Theaterhaus auf dem Pragsattel. Kann man sagen, dass es auch für Stuttgart die Nacht der Nächte war? Beide zusammen jedenfalls demonstrieren eindeutig: so multitanziell geht es derzeit in unseren (auch ohne deutschen Alleinvertretungsanspruch) Landen zu! Als Eröffnungsproduktion gleich ein Hammer: das Gastspiel von Sasha Waltz & Guests mit „Gezeiten“, die man alternativ auch „Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe“ betiteln könnte. Denn die nächste kommt bestimmt – so viel ist jedenfalls klar.

Es ist eins der wenigen klaren Statements dieser pausenlosen zwei Stunden. Denn nie erfahren wir, wo wir uns befinden, wer die Sechzehn auf der Bühne sind, woher sie kommen, warum sie handeln, wie sie handeln – nur, dass sie offenbar einer Katastrophe gerade noch entkommen sind (und der nächsten harren). Lauter Typen/Innen, dazu verdammt, eingeschlossen zu sein – ohne Aussicht, ihrem Gefängnis je zu entfliehen. Wie schon in Sartres „Huis clos“ vor einem halben Jahrhundert –von Béjart bereits 1957 in seiner „Sonate à trois“ auf den choreografischen Punkt gebracht.
Genau nach dem sucht Sasha Waltz offenbar immer noch, die ja zugibt, dass es sich bei ihren Arbeiten um eine ständige „Recherche“ handelt. Eine Suche also. Und wonach? Doch nicht etwa nach dem Tanz?

Fragen über Fragen jedenfalls, die „Gezeiten“ nicht beantworten – oder, frei nach Schönberg: die Frage ist die Antwort! Und so wüten sie, eine Zwangs-WG der Ausgeflippten, gegeneinander und nicht zuletzt gegen sich selbst – und kommen dabei nie zu sich selbst. Sie sind ständig außer sich, auch bei den natürlichsten (aber was heißt hier schon natürlich?) Verrichtungen, etwa beim Essen oder Trinken oder Schlafen. Traktieren einander, auch mit Latten und reißen zu diesem Zweck den ganzen Bühnenboden auf. Man bemitleidet sie nicht, bestaunt aber, wie sie in diesem permanent entgrenzten Zustand agieren – ohne sich tatsächlich zu verletzten, obgleich sie doch täuschend echt simulieren, einander ständig an die Kehle zu gehen. Wie muss das geprobt sein! Sie sind ausnahmslos alle Perfektionisten des Timings. Und Sasha Waltz ist die Maestra dieses total durchorganisierten Chaos – eine choreografische Logistin der Anarchie.

Zu ihren Friends werde ich wohl nie gehören – nicht einmal zu ihren deutschen Freunden. Doch meine Bewunderung für ihre Arbeit ist nahezu grenzenlos. Meine Welt ist das nicht (noch nicht?). Zu Hause angekommen, zoomte ich mich via TV nach Wien, mitten in den Trubel des Opernballs!

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