Ein tänzerischer Quantensprung

Boris Eifmans "Tschaikowsky" an der Staatsoper Unter den Linden

oe
Berlin, 04/05/2006

Alle Achtung! Längere Zeit (allzu lange?) nicht in Berlin gewesen, konstatiere ich mit einigem Erstaunen die rapide dynamische Beschleunigung der lokalen Tanzszene und den formidablen Qualitätszuwachs des Berliner Staatsballetts. Eine ganz große Premiere diese Produktion von Boris Eifmans „Tschaikowsky“, auch wenn ich mich mit ihrem leicht überkandidelten Untertitel „Das Mysterium von Leben und Tod“ nicht sonderlich befreunden kann. Immerhin hat Eifman seinen „Tschaikowsky“ schon 1993 in St. Petersburg herausgebracht, lange vor der gegenwärtigen Tschaikowsky-Inflation unserer Kompanien. Es ist ein besseres Ballett als alles, was er danach geschaffen hat – viel subtiler als sein übliches Dampfwalzen-Exerzier-und-Sex-Pathos, mit dem er das Publikum bei seinen letzten Gastspielen hierzulande überrollt hat.

Dass er sein choreografisches Handwerk versteht, stand ja nie außer Zweifel. Aber hier stimmt nun so ziemlich alles: die Musikauswahl (konzertreif interpretiert von der Staatskapelle unter Alexander Sotnikov), die Dramaturgie, die Inszenierung und Choreografie, die Projektionen der sehr zurückhaltenden Ausstattung von Viacheslav Okunev und auch die Beleuchtung von Gleb Filishtinsky – nicht zu vergessen die fabelhafte Einstudierung von Olga Kalmikova, von der hochklassigen Solistenbesetzung und dem Corps ganz zu schweigen, das auf der Trainingsarbeit von Sandor Nemethy aufbauend unter der Chef-Ballettmeisterin Valentina Savina eine Perfektion (diese Schwanenmädchen – wie eine Delegation des Mariinsky-Balletts!) erreicht hat, die, inklusive München, Hamburg und Stuttgart, in Deutschland einzigartig ist.

Auch Vladimir Malakhov, unser Jahrtausend-Tänzer, zurückgekehrt von den Flitterwochen mit Sasha, hat das Spektrum seiner darstellerischen Möglichkeiten noch einmal erweitert und vertieft: Boris Becker zum Verwechseln ähnlich, ist sein Tschaikowsky ein innerlich Zerrissener, eine gespaltene Persönlichkeit zwischen Genie und Wahnsinn. Und als sein Alter Ego verkörpert Ronald Savkovic die reine Seele Tschaikowskys – der, der er so gerne geworden wäre, wenn nicht das Schicksal sich gegen ihn verschworen hätte. Nicht so glücklich bin ich über die Trinität von Nadesha von Meck, Carabosse und Pique Dame – das liegt nicht an Beatrice Knop, ganz und gar nicht, sondern an der Unvereinbarkeit der drei Charaktere, denn als Frau von Meck ist Knop die gütige, selbstlose Patronesse von distanzierter Wärme und Herzlichkeit (genauso wenig kann ich mich mit der Drosselmeier-Abspaltung des Alter Ego befreunden). Und als Tschaikowskys Frau ist Nadja Saidakova keineswegs das nymphomanische Flittchen, als das sie sonst zumeist dargestellt wird, sondern das Opfer ihrer fehlprogrammierten Liebe. Sehr beindruckend auch Marian Walter als der Prinz aller schwulen Träume.

Es ist, wie gesagt, eine fantastisch gearbeitete Produktion, in rasanten, geradezu soghaften Schnitten, eindeutig beeinflusst von Béjart (vielleicht ein bisschen zu eindeutig in der plakativen Bolero-Orgie des Finales) und Ken Russells Film. Eifman ist eben ein brillanter Virtuose des Showbusiness – und sein „Tschaikowsky“ ist ein glänzender Beweis für die Legitimität des abendfüllenden Handlungsballetts auch in heutiger Zeit – wie sehr seine Verächter auch wieder Zeter und Mordio schreien werden.

Die Stuttgarter wären begeistert, es in ihrem Repertoire zu haben. Ich würde es jedenfalls liebend gern bald ein zweites Mal sehen, um noch besser die Tricks seiner Machart zu ergründen. Und ich frage mich, was denn wohl in den Köpfen von Gyula Harangozó (besonders in dem seinen als – nicht der Verursacher, wohl aber der Verantwortliche für das Tschaikowsky-Deaster des Wiener Staatsopernballetts) und Paul Chalmer als Premierengäste angesichts der herausragenden Qualität dieses Berliner „Events“ vorgegangen sein mag.

 

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