Die Choreonauten

Novitäten von Douglas Lee, Marco Goecke und und Marc Spradling zum Saisonschluss

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Stuttgart, 30/06/2006

Nach den Argonauten, die bekanntlich das Goldene Vlies nach Griechenland holten, betätigen sich die Tänzer des Stuttgarter Balletts in ihrer letzten Premiere der Spielzeit gewissermaßen als Choreonauten, die zur Eroberung der Bühne des Schauspielhauses ansetzen. Knapp nach dem Abpfiff des Fußball-Weltmeisterschaft-Viertelfinales geht es dabei freilich wesentlich nüchterner und cooler zu an diesem Abend als auf den Plätzen und Straßen der Schwabenmetropole, wo die Stimmung Siedegrade erreicht, die an die Temperaturen von Kolchis am Schwarzen Meer erinnern.

Drei Mannschaften (es sind wirklich Mann-schaften, neunzehn Vertreter dieser Spezies insgesamt gegen zehn Frauen) wetttanzen in drei Runden von zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten in ausgebleichten sexy Dessous (zum Teil auch oben ohne) zu blockartig-peitschenden Geräuschen („Viewing Room“ von Frank Henne), beziehungsweise zu Mystery-Klängen von György Ligeti („Poème Symphonique für 100 Metronome“) und Steve-Reich-Beats („Clapping Music“ und „Six Marimbas“), ausgeführt von den Drive-Beschleunigern des Percussionsensembles der Musikhochschule Stuttgart. Vertreter einer fremden tänzerischen Rasse, Aliens aus dem Kosmos, äonenweit entfernt von ihren irdischen Verwandten in „Giselle“- und „Schwanensee“-Landen.

Am ehesten entdeckt man noch Gene ihrer klassisch-akademischen Abstammung bei der Vorhut der Sechs plus Sechs, die, angeführt von Katja Wünsche und Alexander Zaitsev, von Douglas Lee im „Viewing Room“, einem Vexier-Kabinett zwischen transparenten Paravents präsentiert werden. Es ist die Elite-Schwadron der Screwdrivers, so genannt zu Ehren eines berühmten Fabrikanten aus dem Hohenlohischen, weil sie ständig in den abstrusesten Verschraubungen als Paare zu zweit und dritt auftreten.

Ihnen entspricht die Division der Zwei plus Fünf, die Marc Spradling unter die Folie seines „Shaking Tent“ schickt – keine Adressaten der iranischen „Letters from Tentland“, sondern höchst individuelle Kreaturen. Sie heißen mit ihren außerirdischen Namen Alicia Amatriain und Anna Osadcenko nebst Filip Barankiewicz, Ivan Gil Ortega (leider in seiner Abschiedskreation), Marijn Rademaker, Jason Reilly und Friedemann Vogel, als Ingredienzen eines choreografischen James-Bond-Cocktails, mehr geschüttelt als gerührt – sozusagen der „Aprèstiv“ des schlicht als „Neue Werke“ firmierenden Programms.

Und mittendrin Marco Goeckes „Viciouswishes“, bei denen man sich allerdings fragt, was denn so lasterhaft an diesen Wünschen sein soll. Sie kommen als Abgesandte – vier Frauen, sieben Männer plus Trio aus Tomas Danhel, Alexander Jones und Simone Pulga -, aus einem Vizeverso-Orbit. Das heißt, dass bei ihnen im Gegensatz zu uns gewöhnlichen Sterblichen hinten vorn ist. Anstelle von Muskeln scheinen sie über Hochspannungsaggregate zu verfügen, die ihnen ständige Stromstöße versetzen, so dass man sie für Zappelphilippe halten kann, der Comic-Fantasy eines Keith Haring entsprossen. Wobei Roland Havlica zweifellos den Vogel abschießt, der in seinem finalen Solo eine Art Zapateado vorführt, bei dem die üblicherweise harten Fersenschläge mit den Armen und Händen und noch dazu polyphon praktiziert werden. Surprise, surprise!

 

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