Nachts im Museum

Ur- und Erstaufführungen von Douglas Lee, Edward Clug und Marco Goecke

Stuttgart, 02/05/2009

Hat er sie erst einmal für einen Ballettabend auserwählt, dann gibt der Stuttgarter Ballettintendant Reid Anderson seinen Choreografen die völlige Freiheit mit ihren Stücken. Meistens entwickelt sich durch Kontraste oder innere Bezüge eine eigene Dramaturgie aus der Zusammenstellung – manchmal auch nicht. „Goecke - Lee - Clug“, der neue Dreiteiler im Schauspielhaus, ist ein durchweg dunkler Abend geworden, dessen Musik in ihren eigenen Wiederholungen kreist. Selbst der Tanzstil ähnelt sich ab und zu.

Wenn Sie die letzten drei oder vier Stücke von Douglas Lee gesehen haben, dann kennen Sie dieses auch schon. Entstanden ist es im Januar fürs renommierte New York City Ballet, wo Lee, auf dem Papier zwar noch Erster Solist der Stuttgarter Kompanie, faktisch aber der dritte Hauschoreograf, freundliche bis gemischte Kritiken bekam. Der Titel „Lifecasting“ bezieht sich auf die alte Bildhauer-Technik, Statuen von der Form des lebenden Körpers direkt abzunehmen. In unserer digitalen Welt meint er außerdem das ständige Beobachtenlassen seines Lebens per Live-Cam im Internet. Die vage Doppeldeutigkeit zwischen antiken Statuen und vernetzten Existenzen trifft der britische Choreograf sehr gut – unter einer nüchternen Scheinwerferinstallation ziehen elf Gestalten ihre leblos-kalten Linien, als wären Statuen im Keller eines Museums erwacht oder hochentwickelte Roboter in einem Laboratorium. Sie bewegen sich in einem Stil des extremen Verbiegens, des abgezirkelten Schreitens und Im-Gehen-Festfrierens. Beine, Arme und Rücken der Tänzer werden ständig überdehnt oder in extremen Winkeln hinausgestreckt, anfangs noch musikalisch, aber dann in einer anstrengenden, einlullenden Betriebsamkeit ohne Veränderungen der Dynamik. In weiten Teilen verliert der Tanz jegliche Verbindung zur Minimal Music von Ryoji Ikeda und Steve Reich. Obwohl zu seelenlosen Bewegungsmaschinen reduziert, verbiegen sich die Stuttgarter Tänzer hingebungsvoll, vor allem die Damen Hyo-Jung Kang, Alicia Amatriain und Laura O’Malley sowie die Herren Alexis Oliveira und William Moore. Und wenn die Gedanken mal wegdriften, was vom Geschehen auf der Bühne nicht gerade erschwert wird, dann fragt man sich, ob sie ein zackiger, zwanzig Jahre alter Forsythe nicht glücklicher machen würde.

Wenn Sie die letzten drei oder vier Stücke von Marco Goecke gesehen haben, dann kennen Sie dieses auch schon. Oder doch nicht? „Bravo Charlie“ entstand vor zwei Jahren fürs holländische Scapino-Ballett zum ersten Teil von Keith Jarretts „Köln Concert“. Mitten in das improvisierte Jazz-Solo aus dem Jahr 1975 hat der Stuttgarter Hauschoreograf ein winziges Stück Chopin hineingemogelt, das verblüffend gut in Jarretts Klavierkaskaden passt. Wieder huschen die Tänzer in Goeckes bekanntem, nervös-frenetischen Stil über die Bühne, wieder verschluckt sie die Dunkelheit fast. Wie immer gibt es Überraschungseffekte – auf den schwarzen Hosen blühen bunte Blumen, hohe Gebäude scheinen aus den Kulissen hereinzukippen, manche Tänzer haben dicke schwarze Pinsel anstelle ihrer Finger, mit denen sie schwebende Staubwolken ins Licht zaubern. Wie immer thematisiert Goecke die Doppeldeutigkeit des Schönen im Hässlichen und umgekehrt: Zwei Tänzer tragen Masken aus Blumen, die aber trotz der zarten Blüten bedrohlich wie Gasmasken oder Schweinerüssel auf ihren Gesichter festsitzen. Ein Grundmotiv des Stücks ist das An-sich-herum-Nähen, das Flicken der beschädigten Seele sozusagen; wohl kann man auch Marco Goecke vorwerfen, dass sein Stil in sich selbst kreist, aber er findet immer neue, hypnotische Bilder, für das was in uns wühlt, bei ihm wendet Tanz das Innere des Menschen nach außen. Interessant in „Bravo Charlie“ ist Goeckes Auseinandersetzung mit der Musik, deren elegisches Pathos er anfangs durch schnarrende Tänzer oder zerfaserte Hektik konterkariert, bevor er sich am Schluss ganz auf ihr treiben lässt: Vier Tänzer wiegen sich in Keith Jarretts Ostinato-Rhythmus, hier tauchen schöne Ballettposen auf und die zuckenden Arme werden ruhig. Während ein einzelner Verrückter selig weiter auf einem imaginären Klavier herumhämmert.

Die einzige Uraufführung des Abends stammt vom rumänischen Choreografen Edward Clug, der im slowenischen Maribor arbeitet. Auch er verwendet Minimal Music, das rhythmisch sehr abwechslungsreiche „Pocket Concerto“ des Slowenen Milko Lazar, dessen Grundinstrument ebenfalls das Piano ist. Von den drei Choreografen des Abends hat Clug das direkteste Verhältnis zur Musik – eine Musikalität, die nicht jeden betonten Takt aufnimmt und optisch abbildet, sondern die Musik als Dialogpartner achtet oder gar mit ihr spielt. In der Liebe zu kleinteiligen, schnellen Bewegungen ähnelt Clugs Stil dem von Marco Goecke – es sieht lakonisch und trocken aus, wie eine Art Slapstick ohne Witz, mit kleinen, minimalen und oft sehr schnellen Bewegungen, ein Stil voll innerer Spannung, weil er ständig die Geschwindkeit wechselt. Oft gehen die sieben Tänzer nicht, sondern schieben sich im rasenden Wechsel von Fersen und Ballen seitwärts über die Bühne, in einer Mischung aus Charleston und Charlie Chaplin; sie scheinen zu schweben und doch verlassen ihre Füße den Boden nicht. Clug choreografiert in kurzen Phrasen, die sich wie ein Puzzle zu einem großen Rätsel zusammensetzen, zu einer schwebenden Unsicherheit, symbolisiert in drei riesigen Flugwesen, die zum Schluss ihre enigmatischen Schatten auf die Bühne werfen. Bei allem Flattern und Zucken reißt aber die Verbindung zum klassischen Ballett nie ab, es gibt rasend schnelle Drehungen, gestreckte Arme und Beine, Clugs variables Bewegungsvokabular wie auch die Strukturierung in Solos, Duos und Gruppen überrascht immer wieder. Wozu auch die fabelhafte Besetzung verhilft – die Stuttgarter Tänzer glänzen in diesem Stück am meisten: Anna Osadcenko, Oihane Herrero, Rachele Buriassi, William Moore, Alexis Oliveira, Attila Bako und Brent Parolin. Immer wieder schränkt der Choreograf unseren Sichtrahmen ein, der Vorhang hebt sich zunächst nur halb, später wandert ein breiter schwarzer Block langsam über die ansonsten kahle Bühne und teilt das Bild, Ausschnitte werden vertikal und horizontal begrenzt. Die Idee ist gewiss nicht neu, genau wie das Schlussbild, denn die drei bizarren Riesenschmetterlinge über der Bühne entpuppen sich als ein zerlegter, schwebender Konzertflügel. Ihn hatten auch schon Nacho Duato oder Jiří Kylián von der Erde abheben lassen, aber das ändert nichts an der Faszination dieses Bildes. Edward Clugs enigmatischer Stil ist die Überraschung des Abends.

www.stuttgart-ballet.de

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