Aus dem Goldenen Buch des Stuttgarter Balletts

Friedemann Vogel debütiert als Kamelienkavalier

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Stuttgart, 18/11/2006

Ich weiß: der Vergleich stimmt überhaupt nicht! Doch was soll ich machen, wenn meine Fantasie sich verselbständigt und Amok zu laufen beginnt – wie bei der Ankündigung des Rollendebüts von Friedemann Vogel als Armand Duval an der Seite von Sue Jin Kang als Marguerite Gautier? Sie ist ja inzwischen die unbestrittene Nummer eins beim Stuttgarter Ballett – und als Dumas‘ und Crankos Kameliendame steht sie seit langem in der direkten und legitimen Nachfolge Marcia Haydées. Eine kundigere und erfahrenere Partnerin bei der Erarbeitung der Rolle des Armand hätte sich der Kronprinz des Stuttgarter Balletts nicht wünschen können.

Und diese Partnerschaft bringt mich eben auf den abenteuerlichen balletthistorischen Vergleich der Partnerschaft von Mathilde Kschessinskaja, Primaballerina assoluta des zaristischen Balletts zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und Nikolai II. Alexandrowitsch, dem letzten russischen Zaren. Nicht dass der etwa mit der Kschessinskaja getanzt hätte – jedenfalls keine Pas de deux nach allgemeinem Ballettverständnis, obgleich man das Verhältnis der beiden durchaus auch als Pas de deux bezeichnen könnte – und das keineswegs nur in einem abstrakten Sinn, war doch die Kschessinskaja dazu ausersehen, den Kronprinzen in die Kunst der intimen Mitmenschlichkeit einzuführen (was ihr, den Zeitzeugen zufolge grandios gelungen zu sein scheint, denn Nikolai galt in den wenigen Jahren bis zu seinem gewaltsamen Tod von Jekaterinburg als ein Liebhaber comme il faut). Und wenn Sue Jin Kang auch den heutigen Friedemann Vogel gewiss nicht länger darin zu unterweisen braucht, was ich hier „die Kunst des intimen Miteinanders“ genannt habe, so hat er doch von der Zusammenarbeit mit ihr allem Anschein nach ungemein profitiert.

Inzwischen siebenundzwanzigjährig, tanzt Vogel, als gälte es seinen Namen als Armand zu legitimieren. Ein tolpatschiger Schüchterling zu Beginn, tanzt er sich durch das Stadium des Stürmers und Drängers, beseelt von dem Atem der Liebe und auf ihren Schwingen in die totale Freiheit seiner paradiesischen Beseelung, die ihn als Darling der Pariser (Stuttgarter) Gesellschaft erscheinen lässt. Um dann allerdings als ein anderer Ikarus in den Abgrund zu stürzen: ein Kavalier der vollkommenen Manieren, dem der Boden seiner Existenz unter den Füßen entzogen wird. Den Playboy lässt er rasch hinter sich, ein sinnenfroher, abenteuerlüsterner Jäger, wird er selbst zum Gejagten, dem der Dämon des Eros im Nacken sitzt, der nicht mehr zurückfindet in die Realität aus der Welt, die er sich, ein Bücherwurm par excellence, zusammen fiktionalisiert hat. Dem sich die Buchstaben der Literatur ins Vokabular der Danse d‘école verwandeln, das er mit der Brillanz eines Rhetorikers der Virtuosität praktiziert.

Und das an der Seite einer Frau, die alle Höhen und Tiefen des Lebens durchmessen hat, Herrin eines Salons, in der sich die Lebewelt ein Stelldichein gibt, die die Männer um ihren Finger wickelt. Und die hier nach allen ihren Erfahrungen noch eine Dimension der Liebe entdeckt, die ihr bisher verschlossen war, und die einen erbitterten Kampf führt, sich diesen Zustand zu erhalten, der ihr doch Schritt um Schritt entgleitet, da sich die Schatten ihrer Vergangenheit zu Wort melden und sie für sich reklamieren. Sue Jin Kang beseelt ihren Tanz als eine Tragikerin der Liebe. An der Seite des jungen Friedemann Vogel durchlebt sie einen zweiten Frühling wie vor fast einem halben Jahrhundert auf dem Gipfel ihres Künstlerinnendaseins Margot Fonteyn in ihrer Partnerschaft mit Rudolf Nurejew.

Es ist einer der ganz großen Abende des Stuttgarter Balletts, der die Dauerhaftigkeit von John Neumeiers Meisterwerk bekräftigt, seine feine Musikalität, die James Tuggle mit den beiden pianistischen Solisten und dem Staatsorchester klangmagisch evoziert. Mit einer bis in die Neben- und die Corps-de-ballet-Rollen exquisiten Besetzung – welch ein embarras de richesse, der es sich leisten kann, die Prudence mit einer Katja Wünsche zu besetzen und die Protagonisten des Manon Lescaut Intermezzos mit Elisa Carrillo Cabrera und Nikolay Godunov. Und noch etwas wird einem an diesem Abend bewusst: die wunderbare Kontinuität des Stuttgarter Balletts, die man realisiert, wenn man in der Künstlerloge des ersten Rangs Egon Madsen, als Kreateur der Rolle des Armand sozusagen der Großvater von Friedemann Vogel, sowie Tamas Detrich und Georgette Tsinguirides einträchtig nebeneinandersitzen sieht.

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