Verstellung ist Verrat am Theater

Tatjana Gsovsky preschte weit über die Toleranzgrenze ihrer Zeitgenossen hinaus

Berlin, 01/10/2005

Berlin flicht seinen Choreografen keine Kränze. Nicht für Mary Wigman, Gerhard Bohner, Tom Schilling – und für Tatjana Gsovsky, der die Stadt ihren Aufstieg von der Ballettprovinz zur führenden deutschen Tanzmetropole der Nachkriegszeit verdankt. Im Jahr ihres 104. Geburtstags und ihres 12. Todestags – kein besonderer Anlass also, aber Anlass genug – liegt endlich ein würdigender Band vor, der sie vor der Vergesslichkeit einer schnelllebigen, leichtfertigen Gegenwart bewahren hilft. Max W. Busch, Verlagslektor und Publizist, hat ihn im Auftrag der Akademie der Künste beim Alexander Verlag Berlin herausgegeben.

„TATJANA GSOVSKY“ mit der Unterzeile „Choreografin und Tanzpädagogin“ liest man schlicht auf der schwarzen Frontseite des Schutzumschlags. Über diesem Titel scheint in einem Porträt von Siegfried Enkelmann die Gsovsky in engelsgleicher Abwesenheit unter halbgeschlossenen Lidern inneren Gesichtern zu lauschen. Ansonsten präsentiert sich in strahlendem Weiß eine gewichtige Edition vom Format 28 x 30,5 cm, die auf 328 Seiten eine Annäherung an das Phänomen Tatjana, wie Berlin sie bald nannte, wagt. Mehr als 250 teils suggestive Schwarzweiß-Fotos sowie Faksimiles ihrer Aufzeichnungen vermitteln einen Eindruck von der charismatischen Person, ihrem Umfeld und dem leider nicht filmisch fixierten Oeuvre. Eine Autobiografie der Gsovsky existiert nicht, wohl aber der von Gerd Reinholm, ihrem bevorzugten Protagonisten und späteren Co-Direktor, verwaltete, bislang unveröffentlichte Nachlass. Aus diesem Quell – schnipselhaft hingeworfenen Bemerkungen, längeren Selbstzeugnissen und den Aussagen etwa ihres Halbbruders – mosaiziert der Herausgeber eingangs 60 Seiten lang den Lebensweg der Gsovsky. Man liest von der Geburt 1901 zu Moskau im Haus eines zaristischen Offiziers und einer deutschen Baronin, die, Schauspielerin, unter dem Einfluss Stanislawskis und Isadora Duncans, eine Schule für Bühnenausdruck und Tanz eröffnet. Auch Tatjana lernt zeitweise dort, malt, dichtet in vier Sprachen, singt, spielt Klavier, schreibt früh eine Oper, erlebt Lenin, sympathisiert mit seinen Ideen, wird Ballettmeisterin im Kindertheater des Samuel Marschak in Krasnodar, heiratet in zweiter Ehe ihren Tänzerkollegen Victor Gsovsky, siedelt 1925 zur emigrierten Familie ins quirlige Berlin über.

„Schock Wigman“ nennt sie die Begegnung mit dem Ausdruckstanz, lernt von der Meisterin, hört moderne Musik, muss als Folge eines Bühnenunfalls ihre Karriere beenden und eröffnet 1928 mit Victor eine Schule in der Fasanenstraße, die sie bis zu ihrem Tod 1993 führen und dort Generationen von Tänzern, Amateuren wie Profis, ausbilden wird. Choreografieren kann sie zunächst nur fürs Varieté und im Film, dann an den Opern in Essen, Leipzig, Dresden. Der Keim Wigman beginnt in ihr zu wachsen: Nicht die Ballettklassiker bringt die im Geiste des akademischen Tanzes Erzogene auf die Bühne, sondern Uraufführungen nach Musik von Leo Spies, Carl Orff, Gottfried von Einem. Auch wenn ein dramaturgisch verändertes „Dornröschen“ ihr Einstand in Berlin ist – im Admiralspalast als Ausweichbühne der Staatsoper wird sie sich für neue Werke einsetzen, bis „das dicke Männchen Formalismus“ sie fortbeißt. Nach einem Engagement am Teatro Colón in Argentinien dann 1952 ein Auftrag von den Berliner Festwochen: Strawinskys „Apollon“ und, folgenschwerer, Henzes „Idiot“ nach Dostojewski, mit Texten der Gsovsky, der Bühne von Jean-Pierre Ponnelle und Klaus Kinski als Sprecher – ihr gemeinsamer Durchbruch. 1954 wird die Gsovsky Trainingsmeisterin an der Städtischen Oper, feiert mit ihrer eigenen Kompanie, dem Berliner Ballett, daheim beargwöhnt, im Ausland Triumphe, wird 1957 Chefchoreografin der Deutschen Oper.

In dieser produktiven Ära veredelt sich ihr Personalstil hin zum expressionistisch angereicherten, auf Wahrhaftigkeit zielenden Konflikt-Ballett. Die Vorlagen für ihre Libretti findet sie bei Shakespeare, Hauptmann, Lorca, Wedekind und Kafka, die Musiken schreiben Egk, Blacher, Nono, Klebe, Liebermann, Boulez. Im Ausland gilt die Gsovsky als Hauptvertreterin des deutschen Ballett-Theaters, Berlins Kritik feindet sie wiederholt an. 1965 quittiert sie den Dienst an der Deutschen Oper, ihrem weltweit sensationell erfolgreichen Berliner Ballett versagt die öffentliche Hand Zuschüsse. Pädagogik wird zur geliebten Zuflucht einer begnadeten Allround-Künstlerin. Über die Ausbildung von Kindern hat die Gsovsky, im Band nachzulesen, besonders erhellend und wortgewaltig nachgedacht. Werke in Bild und Text stellt er vor, porträtiert Schule und Kompanie. Walter Jens und Horst Koegler schreiben über die Gsovsky, Klaus Geitel und Dietrich Steinbeck resümieren detailreich ihre Wirkung. Vita, Werkverzeichnis und Personenregister komplettieren eine auch grafisch gut gegliederte biografische Publikation.

Tatjana Gsovsky – Choreografin und Tanzpädagogin, Bearbeitung Max W. Busch. Akademie der Künste/Alexander Verlag Berlin 2005, 300 Farb- u. s/w-Abb., 328 S., 49,90 Euro

Kommentare

Noch keine Beiträge