Die Methode Victor Gsovsky

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Stuttgart, 26/01/2002

Da ist ein hochinteressanter Artikel „The Teaching of Victor Gsovsky in Berlin, 1926-1936, as seen by Lilian Karina“ erschienen, immerhin 44 Seiten lang, und zwar im amerikanischen „Dance Chronicle – Studies in Dance and the Related Arts“ (vol. 24, number 3, 2001), bei Marcel Dekker in New York. Das ist eine überaus verdienstvolle Vier-Monats-Zeitschrift, herausgegeben von George Dorris und Jack Anderson, die immer wieder durch ihre unkonventionellen Beiträge über kaum andernorts untersuchte Aspekte und Persönlichkeiten der Tanzgeschichte überrascht (in dieser Ausgabe befassen sich die beiden anderen Hauptbeiträge mit „Michio Ito in Hollywood: Modes and Ironies of Ethnicity“ und „Body Politics of Hip Hop Dance Styles in Copenhagen“).

Victor Gsovsky, 1902 bis 1974, war zu Lebzeiten einer der prominentesten Ballettpädagogen – im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre, dann in England und vor allem in Paris, nach dem Krieg dann auch zeitweise in München (wo er Blachers „Hamlet“ zur Uraufführung brachte) und zuletzt in Düsseldorf und Hamburg – und Jahr für Jahr bei der Krefelder Sommerakademie und in Köln. Er war mit Tatjana Issatschenko verheiratet, die sich dann zum Schrecken aller exilierten Russen nicht etwa Tatjana Gsovskaja, sondern Tatjana Gsovsky nannte.

Der Artikel beruht auf Aufzeichnungen und Demonstrationen, die Lilian Karina (zusammen mit Marion Kant, Autorin des problematischen „Tanz unterm Hakenkreuz“) an die italienische Tanzpublizistin Francesca Falcone weitergegeben hat. Karina war eine der ersten Schülerinnen von Victor Gsovsky und gehörte offenbar bis in die sechziger Jahre zu seinem engeren Freundeskreis. Sie präsentiert hier zahlreiche Details über sein Leben, die bei uns zum großen Teil in Vergessenheit geraten sind – auch über die russischen Anfänge von Victor und Tatjana sowie über die Berliner Tanzszene der Weimarer Republik. Karina ist dann via Budapest nach Stockholm gegangen, wo sie als Ballettpädagogin hohes Ansehen genoss und offenbar noch immer genießt, wobei sie nie verhehlt hat, wieviel sie ihren Anfangsstudien bei Victor Gsovsky verdankt.

Der Hauptteil des Artikels besteht aus einer minuziösen Analyse von „Gsovsky´s Style“, gefolgt von „Gsovsky´s Teaching – The Principles“, von den „Preparatory Exercises“ über das „En Dehors“ und das „Développé“, „Corps et Bras“ und so fort bis zu „The Adagios“, „Allegro“, „The Steps of the Large Jump“, „Stability in Pirouettes“ und „Tours Combinations“. Das alles wird exakt beschrieben nach den Demonstrationen einer Schülerin von Karina. Und bietet damit eine einzigartige Lektion über die Methode Victor Gsovsky.

Was ich mir jetzt wünschte, wäre eine Ergänzung durch Tänzer und Pädagogen, die in München, Düsseldorf und Hamburg sowie bei den Sommerakademien in Krefeld und Köln mit Victor Gsovsky zusammengearbeitet haben – auch aus dem Kreis der noch Überlebenden um Tatjana Gsovsky. Und hätte da nicht gerade auch Nikita Gsovsky durchaus Überliefernswertes mitzuteilen? Oder Michael Heuermann in Oldenburg, der ja lange an einer Dissertation über Tatjana Gsovsky gearbeitet hat (von der ich eigentlich erwartet hatte, dass sie eines Tages als Buch erscheinen würde, denn das Fehlen einer großen Monografie über die bedeutende Berliner Choreografin und Pädagogin ist nach wie vor eine der blamabelsten Lücken der deutschsprachigen Tanzpublizistik).

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