„Sweet Sweet Sweet“ oder die Schlacht zwischen Bühne und Zuschauerraum

Das Stuttgarter Ballett mit „Beyond Ballet“

oe
Stuttgart, 20/02/2005

Reid Anderson im Glück! Drei Uraufführungen in der jüngsten Premiere der Kompanie. Und kein einziger Flop. Drei Choreografen – und keiner, dem man nachsagen könnte: na ja, wieder so ein Mini-Balanchine, -Kylián oder -Forsythe. Drei Individualisten. Vom Publikum gleich enthusiastisch aufgenommen. Und man muss ihm beipflichten. Und ist wieder ganz hin- und mitgerissen von dem Elan, der da über die Rampe brandet. Dabei sind an diesem Abend – aus welchem Grund auch immer – solche Publikumsfavoriten wie Alicia Amatriain und Maria Eichwald, Filip Barankiewicz, Mikhail Kaniskin, Douglas Lee, Ivan Gil Ortega und Friedemann Vogel nicht mit von der Partie. Das bietet keine einzige andere deutsche Kompanie! Stuttgart im Ballett-Glück! Wieder einmal froh, keine Kritik schreiben zu müssen. Denn eine solche überforderte mit der Notwendigkeit einer Beschreibung der drei so grundverschiedenen Arbeiten den hier zur Verfügung stehenden Raum. Die überlasse ich gern den Kollegen von den Tageszeitungen.

Dabei stimmte der Titel „Beyond Ballet“ nicht so ganz, denn zumindest zwei der drei Stücke überschritten keineswegs den dem Ballett zugestandenen Freiraum. „Avatar“ von dem polnischen Kanadier Matjash Mrozewski spielt auf hinduistische Rituale an, auf die Metamorphose von Göttern in Tiere und Menschen. Entsprechend eröffnet Oihane Herrero im Lotussitz das Stück, dominieren animalische, krauchend-kriechende Bewegungen der aus den Schatten sich materialisierenden Kreaturen. Mrozewski arbeitet mit stark kontrastierenden Farben (Kostüme, wie in allen Teilen dieses Abends: Michaela Springer), setzt ein schwarzes streng klassisches Paar (Sue Jin Kang und Jiri Jelinek) gegen die eher burschikos geführten beiden Solisten Eric Gauthier und Marijn Rademaker und die drei akkompagnierenden Duos und baut mit ihnen eine geradezu alpine Landschaft auf, mit vielen Liften und Transportaktionen, sich ständig verändernd in ihren plastischen Perspektiven, gebettet in einen ständig fließenden Bewegungsstrom.

Der dann folgende Amerikaner Marc Spradling hat im Grunde drei verschiedene Ballette unter dem Titel „melodious gimmick to keep the boys in line“ vereint. Zuerst einen sich langsam aus fernsten Fernen nach vorn arbeitenden Pas de deux „Postcard to Bartók“ für Bridget Breiner und Evan McKie. Dann einen Pas de quatre „Twisting over a brass bed in Mexico“, in dem die drei Zottelmänner Jason Reilly, Damiano Pettenella und Gauthier die langbeinig verführerische Diana Martinez Morales zu zähmen versuchen. Und – zusammen mit dem auf der Bühne und im Zuschauerraum musizierenden Percussion Ensemble der Musikhochschule Stuttgart – „Die Bändigung der Sieben“, angeführt von Katja Wünsche und Reilly, mit fünf Gruppenpaaren – eine vor Energie förmlich explodierende Choreografie, unter Strom gesetzt von den Rhythmen Boris Bells, deren variable Grundmuster sich immer wieder zu Formationen verdichten, die linear gegeneinander geführt werden (und dringend noch besserer Koordination bedürfen).

Den Clou aber schoss zweifellos Marco Goecke ab mit „Sweet Sweet Sweet“ für sieben Tänzerpaare, zu einer derart ohrenbetäubenden Noise-Collage, dass sein Stück wohl auch „Loud Louder Loudest“ heißen könnte. Was zunächst wie ein bloßer Gimmick erscheint, nämlich der mit lauter schwarzen Luftballons bestückte Bühnenraum, erweist sich dann doch als ein choreografisches Element, durch das sich die Tänzer, zumeist mit dem Rücken zum Publikum, ihre Wege bahnen und dabei die Ballons nach dem Zufallsprinzip durch die Luft wirbeln. Das hat seinen ganz eigenen Reiz, wenn die nervös-glitschigen Zitteraal-Bewegungen der Tänzer mit den Zufalls-Luftcapricen der Ballons kontrastieren. Gott sei Dank gibt es zum Finale dann aber doch noch ein bisschen richtig schön einlullende Schlagermusik, zu der dann eine regelrechte Schlacht mit den und gegen die in den Zuschauerraum gewirbelten Ballons tobt. Vielleicht ein bisschen lang das Ganze, aber doch sehr vergnüglich – und jedenfalls ein Ballett, wie es das bisher noch nicht gegeben hat (und das auch nicht wiederholbar ist) – echt: „Beyond Ballet“. Übrigens, wer sich wie der Autor beim Zählen der Ballons verheddert hat: Es dürften wohl so an die dreitausend gewesen sein!

Kommentare

Noch keine Beiträge