„Ich tanze, was in meinem Inneren passiert.“

„Endstation Sehnsucht“ – ein Gespräch mit Maria Eichwald über ihre Rolle als Blanche Du Bois

Stuttgart, 18/06/2005

Maria Eichwald, die vom Bayerischen Staatsballett zum Stuttgarter Ballett wechselte, war als Erste Solistin in München der Liebling des Publikums. Deshalb ist es für ihre Fans ein Großereignis, dass das Stuttgarter Ballett jetzt mit „Endstation Sehnsucht“ im Prinzregententheater gastiert und Maria Eichwald in München wieder in einer Hauptrolle zu sehen ist. „In einem ausführlichen Gespräch erläutert Maria Eichwald die Herangehensweisen an ihre Rolle als Blanche Du Bois: John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ in Stuttgart, dritte Vorstellung für Maria Eichwald als Blanche, die in der Mitte der Vorderbühne auf einem Bett sitzt – wie immer vor ausverkauftem Haus. Wie erklärt sich die zierliche Ballerina, dass alle Zuschauer, eben noch im Small-Talk, sich innerhalb von Sekunden konzentrieren, noch bevor sie irgendeinen Schritt macht?

„In der Eröffnungsszene dieses Stückes kann man die Leute mit einem bestimmten Ausdruck packen. Nicht, dass man damit etwas probiert, sondern indem man schlicht nichts sieht. Dabei blickt Blanche in das Publikum, und zwar lange genug, dass es sich fragt: ´Warum sind ihre Augen so starr, warum bewegt sie sich nicht, was stimmt mit dieser Frau nicht?` Ich selbst nehme keine Einzelheiten wahr, spüre aber, dass die Zuschauer dann schon mitgehen. Während ich da sitze, versuche ich jegliche Gedanken wegziehen zu lassen. Als Blanche sehe ich irgendwo hin, eigentlich in mich hinein, aber ich sehe nichts. Das ist eigentlich fast das Schwerste, denn wenn man sich bewegt und tanzt, was man gelernt hat, ist es leichter. Nichts zu tun und dabei viel auszudrücken ist schwieriger. Ich glaube, dass Blanche, wenn der Vorhang aufgeht, auf so erschreckende Weise ´nicht da sein` muss, dass das Publikum im ersten Moment gepackt wird. Da kann man nicht spielen, dass man nichts sieht, sondern da muss man selbst wirklich komplett weg sein.“

Die Vorstellung liegt einen halben Tag zurück. Maria Eichwald lacht: „Und ich sehe wirklich nichts, ich habe dieses grelle Bühnenlicht; das hat nur wehgetan. Aber ich habe auch wirklich keinen Gedanken, denke z. B. nicht daran, dass ich noch eine ganze Vorstellung vor mir habe und so vieles machen muss – nein, alles ist weg!“ Maria Eichwald beschreibt den Einstieg in ihre Riesen-Rolle: „Zuerst bewegen sich Blanches Hände von allein, aber das bemerkt sie nicht – bis sie ein bisschen zu sich kommt und sich fragt, was das um sie herum für weiße Wände sind und wo sie eigentlich ist. Da merkt sie, dass sie mit ihren Händen etwas tut und es ihr unbewusst war. Damit beginnt ihre Erinnerung wach zu werden. Zuerst denkt sie an ihre Liebhaber im ´Hotel Flamingo`, eine ihr unangenehme Erinnerung, denn eine Seite von ihr wollte das, die andere macht ihr daraus ein schlechtes Gewissen. Und als zufällig ihr Koffer aufgeht, erinnert sie sich an die schönen Dinge: ´Oh, meine Kleider – was war da und was war da?` John Neumeier hat es toll gemacht, wie er die Geschichte vom Ende her erzählt: Wie groteskerweise erst diese Männer da sind, die es ja nur in Blanches Gedanken, nicht in der Wirklichkeit der Nervenanstalt gibt, und wie sie, als sie ihre Kleider sieht, plötzlich vollkommen in einer früheren Welt ist. Und da fällt zum ersten Mal der Schuss.“ Dieser Schuss markiert die Wende im Leben der Blanche Du Bois. Er wiederholt sich mehrfach, doch dazu später.

Viel mitzuteilen, wenn man noch gar nichts tut – hat Maria Eichwald die Fähigkeit dazu den vielen Erfahrungen zu verdanken, die sie seit ihrer großartigen Entwicklung gemacht hat, die mit der Titelrolle in Neumeiers „Kameliendame“ begann, und ihrer Reife? Kam „Endstation Sehnsucht“ für sie jetzt rechtzeitig und zum Glück nicht früher? „Ich denke, ja. Ich bin jetzt an einem Punkt, an dem ich noch weitergehen, noch andere schwierige Rollen probieren möchte, in denen ich nicht unbedingt schön sein sollte – eine Prinzessin oder was auch immer – sondern in denen ich kompliziertere Persönlichkeiten darstelle. Früher wäre es vielleicht zu früh gewesen, aber da ich die anderen Rollen fast alle schon getanzt habe, ist es jetzt Zeit, in diese andere Richtung zu gehen, um weiter zu lernen. So etwas wie Blanche habe ich noch nie getanzt! Das ist als Rolle von ihrer Komplexität her meine größte Herausforderung gewesen. Natürlich war es früher, als ich die Kameliendame tanzte, eine große Herausforderung, mit 23 Jahren eine Kurtisane darzustellen mit dem ganzen Liebesdrama. Aber Blanche ist noch etwas ganz anderes, schon wegen der vielen zeitlichen Brüche in dieser Vorstellung. Es geht ständig darum, wie sie da ist, wo sie gerade ist, und darum, was war.“

Und wann fängt sie als Blanche endlich an zu tanzen? Die Antwort kommt wie gestochen: „Als die Katze schreit und sie erschrickt.“ Maria Eichwald erläutert: „Nachdem Blanche ihr Händeringen realisiert hat, bemerkt sie Dinge, z. B. die Ventilatoren, die sie an zu Hause erinnern – einer der schnellen Wechsel in Blanches Erinnerung, dieses Mal zu dem, was schön war auf ihrer heimatlichen Plantage ´Belle Reve`. Dann sieht sie aber eine große Kakerlake auf dem Boden, die plötzlich anfängt zu fliegen und ihr ins Gesicht fliegt. Da fällt sie angeekelt in die Realität zurück, und in diesem Moment schreit die Katze – diesen schrecklichen Schrei! Sie erschrickt, und da fängt die Choreographie an. Blanche klettert auf das Bett, klammert sich an den Koffer und alles beginnt.“ Wie feinmaschig das alles gestrickt ist! Ein Blick auf meine Notizen während der Vorstellung verrät, dass dort nach wenigen Zeilen schon zehn Minuten des Stücks verstrichen sind. Wie anders im Gespräch! Hier sind wir noch ganz am Anfang: „Dann bricht die Choreographie wieder, und Blanche redet mit sich über ihre schönen Kleider. Dann findet sie die Briefe, Liebesbriefe, und ab diesem Moment weiß sie wieder, dass etwas passiert ist. Aber sie kann sich nicht genau erinnern, was genau und wieso. Sie erinnert sich: Ja, wir haben geheiratet, die Hochzeit, stimmt. Sie sieht sein Foto an. Irgendetwas Schlimmes ist passiert, aber sie weiß nicht was. Und dann kommt der Schuss.

Bei Tennessee Williams steht ja, dass sie immer diese Musik hört, den letzten Walzer, den sie mit Alan getanzt hat und bei dem sie ihm gesagt hat: ´Du ekelst mich an!` Und er war so sensibel, dass er rausrannte und sich erschoß. Sie kann sich das nicht verzeihen, denn sie versteht es so, dass sie ihn umgebracht hat.“ Das kommt in dem ganzen Ballett immer wieder: Sie hört diese letzte Musik, die sie fast krank macht, bis der Schuss kommt, und dann lässt der Druck nach. Das ist in dem Film auch so: Der ist phantastisch, Vivian Leigh als Schauspielerin ist Wahnsinn!“ Maria Eichwald interpretiert diese Stellen so, dass die Unterbrechungen in Blanches Erinnerung eine Barriere markieren: „Das, wovor sie so Angst hat, ist gelöscht. Sie kommt über einen bestimmten Punkt nicht hinaus. Während sie in ihrer Erinnerung ganz froh mit Alan tanzt und alles schön ist, weil sie ihn liebt, kommt wieder ein Zeitsprung. Sie denkt: ´Aber irgendetwas war...` Sie spricht mit den Gästen ihrer Hochzeit, und dann sieht sie den Freund von Alan und merkt, dass sie irgendetwas an ihm stört, aber sie erinnert sich nicht, was das war. Das wiederholt sich drei Mal. Es ist doch oft so, dass die menschliche Erinnerung das Schlimme, was einem passiert ist, nicht speichert. Das wollte John Neumeier, glaube ich, zeigen.“

Es wäre wohl die Arbeit der Psychoanalyse, das Geschehen noch einmal durchzugehen, bis die Erinnerung diesen entscheidenden Punkt freigibt. Maria Eichwald bestätigt das: „Deswegen geht Blanche wieder zwischen die Leute, dann erinnert sie sich plötzlich an den Zug: Ja, da waren doch Stanley und Mitch, und Stella ist von ´Belle Reve` weggegangen. Danach weiß sie plötzlich: Ah, ja, es ist nicht hier im Saal passiert, es war draußen, ich bin wahrscheinlich auf den Balkon gegangen. Und dann geht sie hinaus, man sieht die Paare tanzen. Dann erinnert sich Blanche, wie sie ins Haus zurückkam und sah: zwei Männer! Ab dem Moment hat sie die Erinnerung wieder. Klick! Damit weiß sie alles wieder, was sie getan hat.“ Auf der Bühne ist das eine tänzerische Eruption, mit der sie Alan wegen seiner homosexuellen Beziehung attackiert. „Wie sie ihn angeschrien hat, ihm schreckliche Dinge gesagt hat, was ihre Erziehung ihr eigentlich verboten hätte. Sie war ja immer sehr vornehm. Aber in diesem Schmerz hat sie sich vergessen. Sie war ja noch sehr jung, und Alan war ihre größte Liebe. Im Buch heißt es, dass für sie die Sonne aufgegangen ist, als sie ihn traf. Sie hat nichts vorher so gesehen und erlebt wie nach dieser Begegnung mit Alan. Alles hatte eine andere Farbe... Wichtig ist es in diesem Moment zu zeigen, wie sehr sie ihn geliebt hat. Und in dem Moment, als sie sich vergisst, bricht ihre dunkle Seite aus ihr heraus.“

Die Vorstellung gewinnt auch daraus ihre beklemmende Spannung, dass Blanche die prekären Momente quälend lang dehnt und sie wieder bricht. Hat Maria Eichwald wirklich die Möglichkeit, auf der Bühne ein eigenes Timing zu schaffen? „Ja, und das macht jede Interpretin anders. Planen kann man das nicht. Man reagiert, wenn man es geschafft hat, tief in der Rolle zu sein, auf seine eigenen Gefühle. Es gibt Unterbrechungen in Blanches Erinnerungen, Momente des Zwiespaltes, in denen sie schwankt, woran sie sich erinnern will. Und wenn ich mich aus diesem Zwiespalt losgerissen habe, setzt die Musik ein und die Choreographie geht weiter. Dabei nimmt man eine Schlüsselbewegung von mir als Einsatz. Ähnliches kenne ich z. B. aus Neumeiers „A Cinderella Story“, aber nirgendwo in dem Maß wie hier.“

Nutzt Maria Eichwald die Tatsache, dass sie als Blanche Herrin über die musikalische Pause, die Situation und ihre Länge ist, bewusst zur Intensivierung der Wirkung? „Ja, sicher. Wenn ich nicht an bestimmte Counts oder die Musik gebunden bin, habe ich die Zeit, alle Gefühle ohne Zeitdruck zu entwickeln. Das ist das Gute daran, aber auch das Schwierige. Die Musik ist nicht da, und nichts hilft von außen. Je mehr man selbst Blanche geworden ist, desto mehr Zeit braucht man wahrscheinlich für sich selber, um klare Gedanken zu fassen, wie Blanche wäre. Das braucht seine Zeit, ich plane das nicht, ich weiß ehrlich nicht, wie lange ich brauche. Ich mache das, was in meinem Inneren passiert.“

Der selbstbewusste Umgang mit der Zeit ist symptomatisch für die Souveränität, mit der Maria Eichwald die Vorstellung im Griff hat. Das muss die Hauptdarstellerin auch leisten, denn an Blanches Darstellung hängt Neumeiers Dramaturgie, die genial über die Chronologie der Ereignisse triumphiert. Gleichzeitig lässt sie ihre Umgebung gespenstisch wirken: „Ja, man sieht dieser Gesellschaft an, dass nichts mehr stimmt, wenn man es genau beobachtet: Die Paare machen fast Slow-Motion. Oder das Gegenteil: extreme Brüche. Das ist so, weil Blanche ja versucht, sich zu erinnern. Entweder gehen ihre Erinnerungsbilder schnell vorbei, oder im Gegenteil ganz langsam, nicht, wie es wäre, wenn man das real tanzen würde.“ Dazu kommt, dass verschiedene Ereignisse der Vergangenheit, z. B. das Auftauchen von Stanley und Mitch, in ihre Hochzeit hineingenommen werden. „Ich denke, dass Blanche versucht, sich an den Punkt zu erinnern, der bei ihr das Trauma hervorgerufen hat. Aber dazwischen kommen ihr Gedanken an Ereignisse, die nicht bei ihrer Hochzeit passiert sind. Beispielsweise: ´Ah ja, Stella ist weggegangen...` Das ist ja in Wirklichkeit erst passiert, als Alan schon tot war.

Mitch, Stanley, das sind keine klaren Gedanken, aber sie sind vorbeigeschossen. Das geht schnell, sie hat sie ja auch erst später in New Orleans kennen gelernt. Ganz anders diese Paare auf ´Belle Reve`, wo ihre Erinnerung sich schwer tut, über einen gewissen Punkt hinauszugehen. Das geht alles langsam. Und am Ende, als sie sich erinnert, dass Alan sich erschossen hat und weggetragen wurde, geht sie zu diesen Männern im ´Hotel Flamingo`. Dann kommen plötzlich die Erinnerungen, dass das Haus, auf der Bühne schräg einsinkend, herunterkommt und die Familie stirbt, einer nach dem anderen. Sie musste alle pflegen, begraben, hatte nie Geld. Irgendwann kann sie nicht mehr und geht. Sie hat alles verloren und geht in dieses Hotel, sucht sich Männer aus, natürlich nicht alle zusammen, aber sie mischt sie in ihrer Erinnerung. Sie versucht in ihnen etwas zu finden, was sie verloren hat, einen Schutz. Aber sie findet ihn nicht, und so bringt sie immer neue Männer zu sich. Bei Tennessee Williams heißt ihr Zimmer im ´Hotel Flamingo` das Spinnennest. Deshalb ist das von der Seite der Männer nicht brutal, sondern Blanche macht das selber, sie will das. Sie hat ja diese dunkle Seite und sie hat Angst sich daran zu erinnern.“

Wie sie diese dunkle Seite Blanches sieht, kann Maria Eichwald nur schwer beschreiben. „Ich glaube, dass sie nach dem Tod Alans etwas in sich entdeckt hat, was sie auch will. Im zweiten Akt wird davon etwas deutlich: Sie mag Stanley als Person nicht, aber der hat etwas Animalisches. Das ist etwas, was sie fasziniert, sie fasst ihn ja fast an. Sie hat zwar Angst vor ihm, aber sie fühlt sich angezogen.“ Hat John Neumeier also das ganze Ensemble um Blanche herum komponiert, so dass es ihren Gedanken folgt? „Für mich sieht es so aus.“ Dann muss Maria Eichwald also sowohl den Balanceakt spielen, dass Blanche ständig in ihrer Erinnerung springt, als auch gleichzeitig das ganze Ensemble dirigieren. Deshalb ist es für sie, wie sie bestätigt, das bisher schwierigste Stück.

Auch im zweiten Akt ist diese vielschichtige Darstellung gefordert. „Sie lernt Mitch bei Stella kennen, und merkt, dass er zwar etwas tollpatschig, aber sensibler als die anderen ist. Er ist ihre Hoffnung, und sie versucht, sich von ihrer schönsten Seite zu zeigen. Sie benimmt sich gegenüber Mitch so, als ob sie Jungfrau wäre. Damit belügt sie sich selbst, gleichzeitig glaubt sie es in diesem Moment selbst beinahe. Ich habe das Gefühl, dass sie es sich nicht nur vorspielt. Sie mag sich selber so, und es wäre gut, wenn es die anderen Vorkommnisse nicht gegeben hätte, woran sie sich nur ungern erinnert. Er ist keiner, den sie einen Traumprinz nennen würde. Als Stanley versucht, Mitch zu erzählen, wer Blanche wirklich ist, passiert auch wieder alles nur in ihrem Kopf. Die Männer, von denen er erzählt, versucht sie zu verdrängen. Aber für Mitch, der sie in dem Pas de deux nicht einmal küssen durfte, sieht es doch nur nach Lüge aus, dass sie die unberührbare Dame spielte. Er verlässt sie, und mit ihm verlässt sie ihre letzte Hoffnung. Alle wissen jetzt über sie Bescheid, sie will in der letzten Szene, bevor Stanley sie vergewaltigt, weg aus dieser Wohnung, will wieder vor ihrer Vergangenheit fliehen. Aber sie hat nichts, wo sie hingehen könnte. Deswegen stellt sie den Koffer auf, fängt an zu packen, aber dann findet sie die Briefe, bis Stanley angetrunken aus dem Krankenhaus kommt, wo seine Frau Stella gerade ihr Kind kriegt.“

Wie schafft Maria Eichwald es, innerhalb dieser komplizierten Abläufe auch noch die schönsten Arabesken und Pirouetten zu drehen? „Oh, ich denke gar nicht an Arabesken und Pirouetten, nicht in dieser Vorstellung. Sie sind da. Ehrlich. Es gibt eine Choreographie, die tanze ich, das habe ich vorher so trainiert, dass ich daran nicht zu denken brauche. Das ist mein Plus.“

Wenn man sieht, wie herzlich die Kompanie und das Stuttgarter Publikum die frühere Erste Solistin des Bayerischen Staatsballetts aufgenommen haben, muss man annehmen, dass sie nach ihrem Wechsel glücklich ist. Maria Eichwald lässt darauf ein zurückhaltendes „Jooh“ folgen: „Zur Zeit besonders, weil ich neue Sachen lerne. Die Art der kreativen Arbeit gefällt mir hier. „Endstation“ z. B. ist ein völlig neuer Weg für mich. Es ist schwierig, so eine Figur zu finden, man quält sich selbst damit, dass man es schafft. Aber man wächst damit, denke ich auch. Zuerst bin ich zu den Proben mit John Neumeier von München hierher gefahren, so oft ich konnte, dann haben Tamas Detrich und Georgette Tsinguridis mit mir gearbeitet. Nach der zweiten Vorstellung hat Marcia Haydée lange mit mir gesprochen, das hat mir toll geholfen. Durch sie wurde mir klar, dass das Ensemble um Blanche herum nie real, sondern als Illustration von Verlauf und Grad ihrer Erinnerung komponiert ist. Von ihr weiß ich auch, dass Blanche wie jeder, der sich nicht erinnern kann, weil etwas aus dem zeitlichen Ablauf in seinem Gedächtnis gelöscht ist, der Reihe nach wiederholt, was sie gemacht hat. Deshalb geht sie immer wieder denselben Weg, bis sie irgendwann an den Punkt, der gelöscht war, herankommt.“

Über all diese imponierenden Mitteilungen aus dem Inneren der Rolle sollte nicht in Vergessenheit geraten, wie virtuos die gleichzeitig zu erbringende tänzerische Leistung ist. Maria Eichwald lacht: „Oh, man kann ja noch schön tanzen. Das muss in einem Ballett auch sein, top zu tanzen, technisch und stilistisch absolut sauber. Bei mir muss das auch stimmen, ich will, dass das hundertprozentig da ist, damit es mich danach, während der Vorstellung, wenn ich dann nur an die Person denke, die ich in dieser Rolle bin, nicht mehr stört. Daran arbeite ich hart, klar! Ich finde das auch interessant, das verlangt von mir mehr, und ich muss mich mehr einsetzen. Aber je mehr man an einer Geschichte arbeitet und mit ihr wächst, desto mehr möchte man so etwas Darstellerisches machen, um sich zu entwickeln. Denn das ist das Interessante, nicht die Schritte. Technik muss sein, ist aber langweilig. 32 Fouettés ein ganzes Leben lang, das ist doch nicht der Grund, warum man tanzt! Das Publikum kommt, um die Geschichte zu sehen, nicht weil du Fouettés und Pirouetten schaffst. Das muss schon auch sicher beherrscht sein, damit die Leute sich nicht fragen: Fällt sie oder nicht? Denn dann denkt keiner an die Geschichte.“
 

P.S.: Dass Maria Eichwald Handlungsballette über alles liebt, hat seinen Grund auch darin, dass sie in wechselnden Rollen Spiegelungen ihrer eigenen Person findet. Sie krümmt den Rücken, streckt das Kinn vor und ballt die Fäuste: „Wenn ich mich in der Rolle ganz normal benehmen kann, oder gar so, wie ich es eigentlich gern würde, wenn ich mich im Alltag nicht beherrschen müsste, das mag ich!“ Und schon wird sie zur Katharina, der Spaß daran leuchtet auf ihrem Gesicht. Denn damals, bei unserem Gespräch vor etwa einem Jahr, hatte sie kurz vor der besprochenen Vorstellung von „Endstation Sehnsucht“ als Katharina in „Der Widerspenstigen Zähmung“ debütiert. Am 30. Juni, gut eine Woche nach dem Gastspiel in München, wird sie zur Eröffnung der neuen Serie in Stuttgart wieder diese Freude haben. „Wenn ich aber meine Rolle eigentlich gar nicht bin, z. B. im Fall dieser Blanche Du Bois, ist es um so interessanter und schwieriger, das aus sich herauszuholen. Ob man es vielleicht, auch wenn man es nicht ist, so spielen kann, wie sie vielleicht gewesen ist, ist eine große Herausforderung. Und das liebe ich: Herausforderungen! Alles, wovon man weiß, das wird klappen, wird irgendwann langweilig. Dann will man schwierigere Aufgaben. Etwas neues, anderes...“

Kommentare

Noch keine Beiträge