„Endstation Sehnsucht“ als Horrortrip

Triumphale Neueinstudierung mit Gaststar Neumeier Ferri

Stuttgart, 10/01/2004

Für sein Südstaaten-Ballett aus dem Jahr 1983 machte John Neumeier aus dem deutschen Titel das Anfangsbild: vorn sitzt Blanche du Bois mit ihrem Koffer auf einem Bett in der Irrenanstalt, umgeben von Requisiten wie ihren Briefen und eleganten Kleidern: „Endstation Sehnsucht“. Alessandra Ferris Augen irrlichtern von Anfang an im angstvollen Verlangen, ihr Leben zu beschönigen, und mit einsetzender Musik bewegt sie sich, tauchen plötzlich auch ihre früheren drei Freier auf, die ihr Bett umlagern. Ein Schuss zerreißt diese Sequenz. Dann öffnet sich die Bühne als Erinnerungsraum in die Tiefe: Man sieht Belle Reve mit Gästen und Blanche mit Hochzeitsschleier. Die anschließenden Szenen bleiben zwischen den sieben konturlosen Corps-Paaren von Belle Reve eigenartig matt, zumal auch Blanches Freier, die ihre Erinnerung ständig belasten, wenig Lüstern-Bedrohliches zeigen. Blanches von Ferri vielfältig variiertes nervöses Schöntun, mit dem sie am Traum von einem Leben festhält, das längst dem Untergang geweiht ist, steht einsam gegen die elegische Eintönigkeit.

War Neumeier wirklich gut beraten, als er diese verklärte Vergangenheit auf Blanches Familien-Plantage Belle Reve ganzaktig voranstellte, die das Schauspiel von Tennessee Williams in das Hier und Jetzt bei Stanley und Stella integriert? Viel wird durch diesen ersten Akt gewonnen: Vor allem macht Neumeier durch Bühnenbild, Beleuchtung und Kostüme das Milieu der Vorgeschichte sinnlich erfahrbar. Hohe Jalousien-Türen zu beiden Seiten und besonders das weiße Herrschaftshaus mit Veranda bilden einen starken Kontrast zur Lebenswelt im 2. Akt. Zudem realisierten Mikhail Kaniskin als Blanches Bräutigam Allan und Marijn Rademaker Neumeiers Studie eines schwulen Paares im Vorfeld der Hetero-Heirat eines der beiden Partner facettenreich und überzeugend. Und Blanches Prägung durch Konventionen tritt ebenso plastisch hervor, wie die Flucht ihrer Schwester Stella aus diesem erstarrenden Leben motiviert wird. Wie anders boxen sich doch Stanley und Mitch – ein kurzer Zeitsprung in Blanches Erinnerung – durch die Szene! Blanche, schon damals hypersensibel und zerfahren, sucht bei Allan Schutz, wendet sich aber, als sie die homosexuelle Veranlagung ihres Bräutigams entdeckt, entsetzt ab, und Allan – Katastrophenmoment ihres Lebens – erschießt sich. Dramaturgisch stimmig rückt das alles Blanche ins Zentrum. Danach sieht man Belle Reve untergehen: Die Architektur knickt ein, die Alten sterben, und im beengten Reigen dieser schwarzen Gestalten, die Blanche wie Lemuren in ihre Mitte nehmen, gewinnt auch die Choreografie wieder beklemmende Kraft. Am Ende genügt Neumeier ein kurzes Bild des Flamingo-Hotels als Hinweis auf Blanches nymphomanisches Intermezzo.

Im 2. Akt nutzt Neumeier genial die polystilistische „1. Sinfonie“ Alfred Schnittkes, die im grandiosen Originalmitschnitt der Uraufführung mit dem philharmonischen Orchester Gorki unter Gennadi Roschdestwenski eingespielt wird. Das Saxofon dominiert, wenn in Stanleys und Stellas Sex-geprägter Lebenswelt ein Punching-Ball (im Ballett ersetzt Boxen das Pokerspiel) und Deckenventilatoren die hitzige Animalität verdeutlichen. Katja Wünsches Stella hat sich ihrem Stanley überzeugend anverwandelt, den Jason Reilly als erotischer Kraftprotz erstaunlich anmutig verkörpert. Beide genießen das brodelnde New Orleans mit seinen Arbeitern und Matrosen, und das leidenschaftlich tanzende Corps de ballett verleiht dem Geschehen einen intensiven Drive. In diese Welt tritt ängstlich die verletzliche, vornehme Blanche ein: Wie Ferri nur mit Mühe ihr Zittern ruhig stellte, das war ein vorzügliches Detail ihrer hohen Schauspielkunst. Wie dieses Detail wirkte alles an ihrer Darstellung absichtslos, wie aus einem Guss gestaltet, in seiner Konsequenz beklemmend. Natürlich ist ihre Schwester ihr fremd, natürlich steht sie gegen sie und Stanley außerhalb. Daraus ergibt sich ihre Affinität zu Mitch, doch Stanley entzieht ihr den Freund. Blanche drapiert das Bett und die für sie zu helle Lampe mit ihren Tüchern und tanzt verhuscht ein altmodisches Menuett. Faszinierend spielt Ferri, wie sie sich in Romantik flüchtet und sich Mitch im Pas de deux affektiert entzieht. Ivan Gil Ortega zeigt als Mitch deutlich den Zwiespalt zwischen der eigenen Unbeholfenheit und seinem Verlangen nach Blanche. In deren Alptraum taucht immer wieder Allan auf, und Mitch, von Stanley des Bildes beraubt, das er sich von der schönen Blanche gemacht hat, verschwindet nach einem Solo, in dem unorganische Pirouetten seine Verzweiflung zeigen. Jazz und Menuett überlagern sich, wenn Stanley sie mit aggressiver Geilheit antanzt, und in dieser Szene, die der Vergewaltigung Blanches vorausgeht, reicht Reilly in Tanz und Ausdruck an das Niveau der Ferri. Als Opfer sieht sie mit irrer Miene Erinnerungsbilder ihrer Hochzeit, begreift sich als Königin und weist Stellas Zuwendung zurück. Zur sich bedrohlich verändernden Musik erscheint Stanley mit Arzt und Wärterin. Wie konzise Neumeiers Musikalität und Theaterinstinkt Blanches psychische Odyssee wieder in das Anfangsbild münden lassen, begeisterte. Nach seiner neuen „Lulu“ vergegenwärtigt das Stuttgarter Ballett mit „Endstation Sehnsucht“ innerhalb kurzer Zeit den zweiten modernen Literatur-Klassiker überaus lebendig.

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