Mit ungebremster Wucht wie vor zwanzig Jahren

John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ neu einstudiert mit Alessandra Ferri als Gaststar

oe
Stuttgart, 10/01/2004

Ballette sind eine empfindliche Spezies! Die wenigsten überleben die Spielzeit ihrer Entstehung. Das befürchtete man auch, als der damals gerade vierzigjährige John Neumeier sich mit dem Gedanken trug, Tennessee Williams‘ Broadway- und Kino-Hit „A Streetcar Named Desire“ zu „vertanzen“. Wie wollte er gegen die subtile, kammerspielartige Neurosen-Psychodramaturgie des Originals ankommen, wie gegen die amerikanische Starbesetzung mit Vivien Leigh, Marlon Brando, Kim Hunter und Karl Malden?

Gleichwohl wurde seine „Endstation Sehnsucht“ bei ihrer Stuttgarter Uraufführung vor ziemlich genau zwanzig Jahren ein durchschlagender Erfolg. Und wieder glaubte man, dass das Ballett in einer anderen Besetzung als mit Marcia Haydée, Richard Cragun, Lisi Grether und Vladimir Klos keinerlei Überlebenschancen hätte. Und es hielt sich dann doch ein ganzes Dezennium auf dem Spielplan, tourte um die halbe Welt und machte auch in einer Hamburger Übernahme Furore. Wie jetzt erneut bei seiner Neueinstudierung im Stuttgarter Schauspielhaus, wo ein sichtlich gerührter John Neumeier am Schluss im Kreise seiner Mitstreiter den tosenden Beifall des Publikums entgegennahm.

Tatsächlich wirkte der Zweiakter auch nach zwanzig Jahren um keinen Tag gealtert, verließ man das Haus geradezu erschlagen von der Wucht, dem dramatischen Elan und heißen Atem, die einem da von der Bühne entgegenbrandeten. Und die auch diesmal wieder alle Bedenken gegen Neumeiers eigenwillige Adaption mit ihrer umstandskrämerischen Vorgeschichte und seiner fragwürdigen musikalischen Grundierung beiseite fegte. Denn der Entschluss, den ersten „Herrenhaus“-Akt in der Nachfolge von Thomas Wolfe und William Faulkner auf Serge Prokofjews „Visions fugitives“ (in der Instrumentation von Rudolf Barshai) zu basieren, ruft unweigerlich „Romeo und Julia“-Ballettreminiszenzen wach und suggeriert so eher Tschechowsche „Kirschgarten“-Nähe als amerikanische Südstaaten-Problematik.

Umso überzeugender die Wahl von Alfred Schnittkes erster Sinfonie für den zweiten, in New Orleans spielenden Akt, die in ihrem collagehaften, jazzinspirierten Charakter, ihren schrillen und nervösen Klang- und Lärmattacken tatsächlich ein Soundgemälde entwirft, das die Begegnung eines russischen Originalgenies (Schnittke war gerade vierzig Jahre alt, als er seine „Sinfonie aus der Neuen Welt“ komponierte) mit der Musik von Charles Ives reflektiert. Und diesen New Orleans-Sound, dieses babylonische Vieux-Carré-Feeling, hat Neumeier genial in die Hektik seiner stadtarchitektonisch konzipierten Choreografie mit ihren quadratischen Mustern transformiert.

Und eine neue Tänzergeneration hat sich so in diese Choreografie gestürzt und sich diese angeeignet wie es seinerzeit die direkten Cranko-Erben um Marcia Haydée es getan haben. Der Vergleich ist außerordentlich interessant, denn Alessandra Ferri, Primaballerina assoluta der Mailänder Scala und ständige Gastballerina bei den großen internationalen Kompanien, gehört zu der äußerst raren Gattung der legitimen dramatischen Tanzaktricen – wie seinerzeit Haydée, Ulanowa, Fonteyn und Chauviré. Wenn man sie mit Haydée vergleicht, kommt einem unwillkürlich die historische zeitgenössische Konfrontation von Sarah Bernhardt und Eleonora Duse in den Sinn. Da wäre dann Haydée die Nachfolgerin von Bernhardt, scharf ausgeprägt, die sich ihre Rollen instinktiv erarbeitete und für sich vereinnahmte, deren unverwechselbare Persönlichkeit durch all die verschiedenen Hüllen der von ihr dargestellten Charaktere durchschimmerte. Ferri dagegen, zarter, ätherischer, fragiler von Natur, eine fabulöse Technikerin, akademisch in großer Tradition aufgewachsen, mit einem ungemein geschmeidigen Körper begabt, tänzerische Rhetorikerin eines ausgesprochen italienischen kantablen Parlandos, ist die Erbin eher der Duse.

In Neumeier scheint sie ihrem künstlerischen d´Annunzio begegnet zu sein, mit dem sie sich seelisches Neuland erobert hat. Die Myriaden von Ausdrucksnuancen ihrer Mimik, aber auch ihrer Hände – besonders in ihrer leitmotivischen, segnenden Gestik von ihrem Mund an die Stirn ihrer Partner – ist von einer so noch kaum erlebten Intensität. Sie ist eine regelrechte Equilibristin, wie sie da ständig auf dem Drahtseil zwischen Wirklichkeit und Wahn balanciert. Als Blanche Du Bois hat sie sich einen zweiten Vornamen verdient und darf sich hinfort Alessandra Eleonora Ferri nennen. Neumeier sollte ein Ibsen-Ballett für sie choreografieren! Sie hat einen Supermann als Partner, Jason Reilly, der als Jungstar das für sie werden könnte, was Nurejew für die reife Fonteyn war. Als der Polacke Stanley Kowalski ist er zunächst einmal der Arnold Schwarzenegger von Louisiana, ein Adonis, der Sex aus allen Poren schwitzt, dabei kein bloßer Kraftmeier, sondern ein Vollbluttänzer, der auch in seinen explosivsten Momenten niemals die Kontrolle über seinen total durchgestylten Körper verliert und ein absolut verlässlicher Partner ist.

Kein Wunder, dass seine Frau Stella von ihm hingerissen ist, dass sie ihn nicht nur mit ihren Augen förmlich verschlingt und geradezu an seinen blitzenden Zähnen hängt. Katja Wünsche übertrifft da noch ihre Rollenvorgängerin, indem sie seinen animalischen Bewegungsstil völlig verinnerlicht hat. Für Reilly wie für Wünsche bedeuten die von Neumeier choreografierten Rollen von Stanley wie von Stella den entscheidenden Karrieredurchbruch. Sie sind einfach klasse! Mitch, Blanches schüchterner Liebhaber, war Vladimir Klos‘ beste Rolle überhaupt, von einer ungemein anrührenden warmherzigen Menschlichkeit. Da bleibt Ivan Gil Ortega viel unpersönlicher, blasser – wie auch die drei Bordellganoven von Ibrahim Önal, Alexander Zaitsev und Jorge Nozal (noch) nicht das ursprüngliche Fieslingstrio von Stephen Greenston, Christian Fallanga und Randy Diamond vergessen machen.

Dagegen sind Mikhail Kaniskin als Allan Gray (und später nochmals als Zeitungsjunge – warum?) und Marijn Rademaker als sein Freund ein ausgesprochen sympathisches Paar, unauflöslich miteinander verstrickt, wie diese ganze dem Untergang geweihte Gesellschaft von Belle Rive, als die sich die Stuttgarter Tänzer ebenso versiert auf dem Parkett des Herrenhauses bewegen wie später dann in dem kochenden und stinkigen Viertel des Vieux Carré von New Orleans.
Es gibt noch zwei weitere Vorstellungen mit Alessandra Ferri am 14. und 15. Januar – die folgenden Vorstellungen dann in Stuttgarter Hausbesetzung am 10. und 25. Februar.

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