Ein Stern mit Zukunft

Ein Porträt des Pariser Danseur Etoile Mathieu Ganio

Paris, 26/10/2005

Manche Talente werden früh erkannt – so zum Beispiel Mathieu Ganio, 21 Jahre, Etoile der Pariser Staatsoper. Als er mit sechzehn Jahren im Rahmen einer Schulvorstellung den Franz in „Coppélia“ tanzt, prophezeien ihm viele bereits eine brillante Karriere. Nur drei Jahre später, im Mai 2004, wird er im Anschluss an eine Vorstellung von Rudolf Nurejews „Don Quichotte“, in der er kurzfristig einen verletzten Tänzer ersetzt, zum Danseur Etoile ernannt. Diese Ehre wird nur selten einem erst zwanzigjährigen Tänzer zuteil, und noch ungewöhnlicher ist es angesichts der strengen Hierarchie der Pariser Oper, direkt aus dem Corps de Ballet zum Danseur Etoile nominiert zu werden, ohne vorher Premier Danseur gewesen zu sein. Eine sehr unerwartete Nominierung also, aber keineswegs ein Risiko für das Prestige der Kompanie, denn Mathieu Ganio hat jetzt schon alle Anlagen dafür, einer der größten Tänzer seiner Generation zu werden: ideale Proportionen, eine perfekte Linie, einen präzisen, großzügigen und leichten Stil, eine natürliche Bühnenpräsenz und vor allem eine künstlerische Sensibilität, die es ihm erlaubt, die verschiedensten Charaktere überzeugend zu porträtieren. „Einer der Vorteile meines Berufs ist, dass man viele Personen verkörpern kann, die man im wirklichen Leben nicht sein könnte oder nicht zu sein wagte. Auf der Bühne kann man leben und sich verändern.“

1984 in Marseille geboren, besucht Mathieu Ganio mit sieben Jahren erstmals eine Tanzschule. Doch schon zuvor ist der Sohn von zwei Etoiles (von Dominique Khalfouni, einer ehemaligen Etoile der Pariser Oper und des Ballet National de Marseille, und Denys Ganio, einem ehemaligen Danseur Etoile des Ballet National de Marseille) vom Beruf seiner Eltern fasziniert, deren Schritte er oftmals während Proben und Vorstellungen imitiert. Im Alter von drei Jahren atmet er zum ersten Mal Bühnenluft, als er in den Armen seiner Mutter in Roland Petits Ballett „Ma Pavlova“ auftritt. Trotz einiger Vorbehalte seiner Mutter, die ihn vor den Schwierigkeiten des Tänzerberufes warnt, beschließt Mathieu Ganio, sein Glück zu versuchen. Nach einem Jahr in einer privaten Schule wechselt er in die kurz zuvor von Roland Petit neu gegründete Tanzschule der Marseiller Staatsoper. Sieben Jahre später besteht er die Aufnahmeprüfung der Tanzschule der Pariser Staatsoper: „Ich wollte in einer überwiegend, aber nicht ausschließlich klassischen Kompanie arbeiten. Meine Wahl fiel auf Paris, weil das die beste Kompanie in Frankreich ist. Ich wusste, dass es besser war, die Pariser Schule zu besuchen, um die nötige Basis zu haben.“ 

Dieser Wechsel bedeutet für Mathieu Ganio das Eintauchen in eine neue Welt: „In Marseille hatte ich meine Familie, und wenn ich aus der Schule kam, sah ich die Sonne und das Meer. Zudem war in Marseille die Perspektive anders: die Leute tanzten, weil sie daran Freude hatten, und nicht unbedingt, um ans Marseiller Ballett zu kommen und ihr ganzes Leben zu tanzen. Es ging dort viel entspannter zu. In Paris hingegen ging es wirklich darum, hinterher in die Kompanie zu kommen.“ 

Während der beiden Jahre an der Tanzschule der Pariser Oper hat Mathieu Ganio im Rahmen der jährlichen Schulvorstellungen Gelegenheit, sein Talent unter Beweis zu stellen: im Jahr 2000 tanzt er ein Solo in John Neumeiers Ballett „Yondering“, ein Jahr später vertraut ihm Pierre Lacotte die Rolle des Franz in „Coppélia“ an – Erfahrungen, die Mathieu Ganio in guter Erinnerung behält. Auch vergisst er wohl nie seine allerersten Momente auf der Bühne des Palais Garnier in Jean-Guillaume Barts Ballett Jugendsünden: „In diesem Ballett war ich der erste auf der Bühne. Wir hatten nie im Palais Garnier geprobt. Ich stand also auf der Bühne, der Vorhang ging auf, und als ich den riesigen Zuschauerraum vor mir sah, fühlte ich mich plötzlich winzig klein auf der Bühne!“ 

Der Schock ist schnell überwunden, und nach seiner Aufnahme in die Kompanie (im Jahr 2001) beginnt für Mathieu Ganio ein blitzschneller Aufstieg: 2002 wird er zur Coryphée, 2003 zum Sujet befördert. Anfangs tanzt er keine Solorollen, bis man ihn auswählt, ein einziges Mal den Kourbski in Juri Grigorowitschs Ballett „Iwan der Schreckliche“ zu tanzen. Diese prestigeträchtige Rolle, die unter anderem von Etoiles allerersten Ranges wie Michaël Denard geprägt wurde, scheint schlecht zu Mathieu Ganios Charakter zu passen: so fürchten einige, dem eher schüchternen jungen Tänzer mangele es an Bühnenerfahrung, um jenen kriegerischen Prinzen darzustellen, der, innerlich zerrissen von Eifersucht, die Geliebte des Zaren ermordet. „Dieses Ballett war sehr wichtig für mich: ich fühlte, dass es gewissermaßen meine Chance war. Kourbskis Charakter hat mich sofort interessiert und ich wollte ihn besser verstehen. Anfangs war es etwas schwierig für mich, aber dann habe ich mir die anderen Besetzungen angesehen und ich hatte etwas Zeit, um alleine zu arbeiten und um nachzudenken.“ 

Der Abend ist ein voller Erfolg: Mathieu Ganio gelingt es, sich Kourbskis Charakter vollkommen zu eigen zu machen und dem Publikum seine Emotionen zu vermitteln. Angesichts dieser überraschenden Interpretation bestätigt der junge Tänzer, dass er sehr gerne Rollen tanzt, die man nicht von ihm erwartet: „Wenn man Dich in einer Rolle „erwartet“, ist es entweder gut und man findet das normal, oder man „erwartet“ Dich so sehr, dass Du das Publikum enttäuschst. Andererseits gibt es Rollen, bei denen man ganz und gar nicht weiß, wo es hinführt, und im Endeffekt wird es sehr gut. Und für mich ist gerade das interessant. Es geht dabei um Facetten meiner Persönlichkeit, von deren Existenz ich nichts wusste, und die schließlich bei der Arbeit an einer Rolle zum Vorschein treten. Dadurch erfährt man einiges über sich selbst.“ 

Nach dieser ersten bedeutenden Rolle tanzt Mathieu Ganio kein weiteres großes Solo bis zum Basilio in „Don Quichotte“, für den er mit dem Titel des Danseur Etoile belohnt wird. Danach tanzt er „La Sylphide“ (Pierre Lacotte), „Etudes“ (Harald Lander) und „Dornröschen“ (Rudolf Nurejew). Sein Repertoire ist bisher überwiegend klassisch, was aber für den jungen Tänzer, dessen Lieblingsrollen derzeit „La Sylphide“ und „Dornröschen“ sind, keineswegs gleichbedeutend ist mit Langeweile. Gerade für diese beiden Rollen wurde er übrigens extra nach Japan eingeladen: „La Sylphide war das erste Ballett, das ich ganz alleine mit einer anderen Kompanie tanzte. Das war ziemlich beeindruckend für mich, zumal das Tokio Ballett keine unbedeutende Kompanie ist, und es sehr wichtig ist, in Japan bekannt zu sein. Die Japaner sind ein fachkundiges Publikum, das sich im Tanz gut auskennt. Außerdem geht es dort sehr professionell zu: wenn man ankommt, ist schon alles bereit, und man muss sich wirklich nur um die Vorstellung kümmern, das ist sehr angenehm. Das Gastspiel war eine sehr positive Erfahrung für mich.“ 

Trotz der Freude, mit der er in klassischen Balletten auftritt, spricht Mathieu Ganio auch von der Schwierigkeit, Rollen zu tanzen, die bereits von berühmten Tänzern geprägt wurden: „Dornröschen beispielsweise ist ein Ballett, das das Publikum schon sehr oft gesehen hat, dadurch wird es etwas schwierig, da die Zuschauer bei diesen Balletten oft feste Bilder im Kopf haben. Nehmen wir zum Beispiel Romeo und Julia, das erst kürzlich hier auf dem Spielplan stand: es ist schwierig, vor einem Publikum aufzutreten, das sich an Monique Loudières oder Elisabeth Maurin erinnert. Und das gilt für alle Stücke des klassischen Repertoires, es gibt immer Tänzer, die eine Rolle geprägt haben.“ 

Um eine eigene Interpretation zu finden, muss man sich seiner Meinung nach den Charakter aneignen, sich in die Rolle einfühlen. Dies bedeutet unter anderem, eine Choreografie bis in ihre feinsten Nuancen zu verstehen: „Wenn man beim Einstudieren einer Rolle einfach mechanisch die Schritte ausführt und dann sagt: „Gut, das ist jetzt also die Rolle“, so ist das von geringem Interesse. Interessant ist es hingegen, eine Rolle zu entwickeln, an ihr zu arbeiten mithilfe von Personen, die einem viele kleine Hinweise geben und die sagen: „Du machst jetzt das, aus folgendem Grund“, anstatt zu sagen: „Du machst jetzt das, weil es seit zehn Jahren so gemacht wird, also machst du es genauso.“ Das Interessante ist es, Gründe zu finden.“ 

Angesichts der Bedeutung, die Mathieu Ganio der Interpretation zumisst, ist es kaum verwunderlich, dass ihn Handlungsballette und Charaktere wie Romeo oder Des Grieux in „Manon“ besonders reizen, Rollen, „bei denen man eine Geschichte erzählen und Gefühle vermitteln kann“. Die Möglichkeit, verschiedene Leben auf der Bühne zu leben, ist für ihn einer der zahlreichen Vorteile seines Berufes. Dennoch war dieses Kind des Tanzes sich nicht von Anfang an seiner Berufswahl sicher, denn andere Möglichkeiten – beispielsweise ein Studium der Biologie oder der Verhaltensforschung – reizten ihn. Doch ist er sehr gerne Tänzer: „Der große Vorteil meines Berufs ist es, dass man von etwas lebt, was man wirklich liebt, von einer Leidenschaft. Zudem kann man viel reisen. Ein anderer Vorteil in einer Kompanie wie Paris ist es, dass man mit vielen verschiedenen Choreografen arbeiten kann. Ich persönlich hatte bisher nur wenig Gelegenheit dazu, aber ich hoffe, das wird sich bald ändern. Das Repertoire hier ist sehr reichhaltig und interessant. Und dann ist da auch noch die Liebe zur Bühne. Als ich Solist geworden bin, habe ich erfahren, dass es Leute gibt, die nach der Vorstellung kommen und sagen: „Dank Ihnen haben wir einen schönen Abend verbracht, Sie haben uns bewegt.“ Es ist eine schöne Belohnung zu wissen, dass Dein Tanz den Zuschauern Freude bereitet, sie berührt; das ist wirklich ein sehr schönes Gefühl.“ 

Im Laufe der langen Karriere, die er noch vor sich hat (21 Jahre bis zur offiziellen Altersgrenze, die derzeit bei 42,5 Jahren liegt), wird der junge Tänzer sicherlich die Gelegenheit haben, das weit gefächerte Repertoire der Pariser Oper zu erkunden und mit zahlreichen Choreografen zu arbeiten: „Ich würde gerne mit Neumeier arbeiten, dessen Ballette ich sehr liebe. Dasselbe gilt für Kylián - mit diesen beiden zu arbeiten gehört zu meinen großen Wünschen. Daneben gibt es natürlich noch viele andere Choreografen, die ich schätze, beispielsweise Nacho Duato oder Roland Petit. Und was die nicht mehr lebenden Choreografen angeht, Balanchine, MacMillan, Ashton.“ 

Derzeit stürzt sich Mathieu Ganio in das Abenteuer des zeitgenössischen Tanzes: der Danseur Etoile Nicolas Le Riche kreiert gerade für ihn die Rolle des Caligula in seinem gleichnamigen Ballett. Sein Traum, an einer Uraufführung mitzuwirken, wird somit Wirklichkeit, und er tanzt abermals eine Rolle, die man nicht von ihm erwartet. Gleichzeitig wird er in George Balanchines „Emeralds“ tanzen, dem ersten Ballett der Trilogie „Jewels“ des amerikanischen Choreografen. Sehr früh an der Spitze angelangt, ruht sich Mathieu Ganio nun keineswegs auf seinen Lorbeeren aus. Er ist ein Perfektionist, der sich seines Titels würdig erweisen will. Seine Nominierung sieht er als Chance, die es ihm erlauben wird, sich zu entfalten und die Rollen zu tanzen, die ihn interessieren. Auf die Frage, was er noch vorhat in seiner Karriere, antwortet er: „Alles! Schließlich ist das erst der Anfang. Jetzt kann ich beginnen, das zu tun, wovon ich schon immer geträumt habe. Nämlich mit Choreografen arbeiten, tanzen, tanzen und nochmals tanzen!“

 

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