„Mayerling“ von Kenneth MacMillan

MacMillans Psychodrama à la française

„Mayerling“ erstmals an der Pariser Opéra Garnier

Am Ende bleibt das Motiv für den Suizid offen: Mathieu Ganio als Kronprinz Rudolf von Habsburg

Paris, 07/11/2022

Kenneth MacMillans Ballett Mayerling hat seit seiner Uraufführung im Royal Opera House im Jahr 1978 viele Häuser erobert – in den letzten Jahren beispielsweise die Staatsoper Stuttgart und nun, rechtzeitig zum 30. Todestags des Choreografen, die Pariser Opéra Garnier. Bei der Einstudierung half der inzwischen in Paris tätige Ballettmeister Irek Mukhamedov mit, während dessen Rollendebüt als Rudolf beim Royal Ballet MacMillan 1992 an einem Herzinfarkt starb.

Das Libretto der Schriftstellerin Gillian Freeman erzählt ausführlich in drei Akten, in denen sich historische Fakten und Fiktion mischen, was den 30-jährigen Kronprinzen Rudolf von Habsburg dazu trieb, sich im Januar 1889 zusammen mit seiner 17-jährigen Geliebten Mary Vetsera das Leben zu nehmen. So sieht man in dem Ballett beispielsweise, wie schlecht er sich sowohl auf politischer als auch auf persönlicher Ebene mit seinem Vater versteht: Kaiser Franz Joseph. Yann Chailloux mit falscher Glatze und falschem Bauch wirkt neben seiner frischen Gattin Héloïse Bourdon, die sichtbar jünger ist als ihr eigener Sohn, bemitleidenswert grotesk. Rudolf wird unaufhörlich vom strengen Premierminister Taafe (Arthus Raveau) überwacht und von vier ungarischen Offizieren (Nikolaus Tudorin, Guillaume Diop, Mathieu Contat und Grégory Dominiak) gepiesackt, die ihn für die Unabhängigkeit ihres Landes von Österreich gewinnen wollen. Der Prinz spritzt sich Morphium, um die durch seine Syphiliserkrankung ausgelösten Schmerz- und Wahnsinnsanfälle zu lindern. Schließlich bereiten ihm noch die zahlreichen Frauen in seinem Leben Schwierigkeiten: Seine ehemalige Geliebte, Gräfin Marie Larisch (Laura Hecquet), will ihn zurückgewinnen; an seiner Braut, Prinzessin Stephanie (Eléonore Guérineau), findet er keinen Gefallen, so dass er schon bei seiner Hochzeit mit der Schwester seiner Gattin flirtet, zum großen Missfallen des Hofes. Zu seiner Mutter Elisabeth, genannt Sissi, die er vergeblich um ihre Zuneigung anfleht, unterhält er eine ödipale Beziehung; MacMillan betonte in seiner Darstellung die Parallelen zwischen dem todessehnsüchtigen Prinzen und Hamlet.

Das Ballett hat einiges, was seinen bis heute andauernden Erfolg erklärt, vor allem die gekonnt zusammengestellte Partitur aus Werken von Franz Liszt (inspiriert gespielt vom Opernorchester unter der Leitung von Martin Yates) und Rudolfs zahlreiche originelle Pas de deux mit seinen potenziellen, tatsächlichen und ehemaligen Geliebten und seiner Mutter. Andererseits gibt es auch viele Szenen, die man eigentlich nicht mehr in epischer Länge sehen möchte, beispielsweise die Geburtstagsfeier von Franz Joseph, die der Geliebten des Kaisers Anlass zu einem ausgiebigen Gesangsintermezzo gibt, die Bordellszene, in denen sich als Soldaten verkleidete Prostituierte mit grässlichen krausen Perücken bis zum Umfallen räkeln, die Jagdszene, die nicht viel zur Handlung beiträgt, sowie die Kartenlegeszene, in der Liszts Musik zu höchsten Wellen der Emotion anschwillt, während auf der Bühne eigentlich nichts geschieht.

Trotz der sorgfältigen choreografischen Darstellung der Hauptfiguren bleiben verschiedene Fragen offen, die durch die Interpreten beantwortet werden müssen: Weshalb verwandelt sich Mary Vetsera (Ludmila Pagliero) vom naiven Mädchen, das man in der Kartenlegeszene zu sehen glaubt, urplötzlich in eine femme fatale, die den Prinzen zu erschießen droht, sich um ihn windet wie eine Schlange und ihn aktiv zum Selbstmord zu ermutigen scheint? Warum will die äußerst sinnliche, „skrupellose Arrivistin“ (in den Worten der Mary der Uraufführung, Lynn Seymour) sich überhaupt umbringen? Wieso behandelt der gedemütigte Prinz seine arglose Gattin mit so übertriebenem Hass, und was gibt schließlich den Ausschlag zu seiner Tat?

Der Erfolg des Balletts steht und fällt mit der Besetzung der männlichen Hauptrolle. Deswegen mag es verwundern, dass die Pariser Oper sich für dieses Werk entschieden hat, das stilistisch kaum zum Haus passen will: der Marathon akrobatischer Hebungen und die schauspielerische tour de force, welche Rudolfs Rolle ausmachen, sind nicht eben die Sache der Pariser Tänzer. Die besondere Geschmeidigkeit auch in den prekärsten Lagen, die MacMillan von den Damen verlangt – von Mary Vetsera zu Rudolfs langjähriger Geliebter Mitzi Caspar (Bleuenn Battistoni) – erfordert auch noch einige Einarbeitung. Mathieu Ganio gab eine eindrucksvolle Darbietung als Rudolf, obgleich einige Hebungen noch bemüht wirkten. Doch gelang es Ganio, von Anfang an – und besonders im Pas de deux mit seiner kühlen Mutter – Mitgefühl für seine Figur zu erwecken. Er stellt überzeugend dar, wie Rudolf im Laufe des Balletts immer stärker von seinem Umfeld und seinen Lebensumständen erdrückt wird. Am Ende scheint er geradezu von Vetsera, die immer wieder zur Pistole greift, in den Selbstmord getrieben zu werden, obgleich Pagliero auch Mitgefühl und Zuneigung zu ihrem Geliebten zum Ausdruck bringt. In den letzten Szenen spürt man nichts von dem Wahnsinn, durch den Starinterpreten des Royal Ballet wie Edward Watson Rudolfs Tat begründen, sondern nur eine tiefe Verzweiflung, so dass als letzter Eindruck weniger Erschütterung über die Gewalttat als Rührung über das traurige Schicksal des Prinzen zurückbleibt.

Mehr als in seinen anderen abendfüllenden Handlungsballetten trieb MacMillan hier die naturnahe Darstellung von Erotik und Gewalt auf die Spitze, so dass der Realismus sich in sein Gegenteil verkehrt: eine Theatralik, die Publikum und Interpreten ständig unter emotionale Hochspannung setzt. Die Pariser Vorstellungen zeigen erneut, welche Bandbreite der Interpretationen dieses Ballett zulässt, das eine Herausforderung sowohl für die Tänzer als auch für die Zuschauer darstellt und niemanden gleichgültig lässt.

 

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