Der Schmuck der Pariser Oper
Interview mit Aurélie Dupont
Über sechs Jahre sind vergangen, seit Mathieu Ganio erstmals den „tanznetz“-Lesern in einem Interview vorgestellt wurde. Damals war er kurz zuvor zwanzigjährig zum Danseur étoile ernannt worden und hatte noch fast seine ganze Karriere vor sich. Inzwischen ist er viele Schritte weiter gegangen und hat auf dem Weg ein Repertoire gefunden, das ihm besonders liegt: das neoklassische dramatische Handlungsballett, das mit John Cranko und Kenneth MacMillan beginnt und bis heute immer wieder vereinzelte Blüten trägt. Nach Armand Duval in John Neumeiers „Kameliendame“ vor einigen Jahren hat er in jüngster Zeit eine Rolle übernommen, in der man ihn weniger erwartet hätte: die Titelrolle in John Crankos „Onegin“. In diesem Interview spricht Ganio über diese beiden Ballette, die zu seinen Lieblingsstücken zählen, über die letzten Jahre und seine Wünsche für die Zukunft.
Sie haben seit Ihrer Ernennung zum Danseur étoile eine Vielzahl an stilistisch sehr unterschiedlichen Balletten getanzt, von „Giselle“ bis „Genus“ (Wayne McGregor). Welche Erfahrungen haben Sie besonders geprägt?
Mathieu Ganio: Die Stücke, die mich am meisten geprägt haben, waren „Caligula“ von Nicolas Le Riche sowie „Kameliendame“ und „Onegin“. Auch „Kinder des Olymp“ von José Martinez war eine interessante Erfahrung, weil es besonders theatralisch und filmartig war. Ein paar Rollen hatte ich immer tanzen wollen, zum Beispiel Rudolf Nurejews „Romeo und Julia“ und „Paquita“ − das waren wichtige Stücke für mich, aber ich sah sie eher als Herausforderungen, als Aufgaben, die ich mir selbst stellte, um zu sehen, ob ich sie tanzen könnte. Unter den Klassikern liebe ich auch „Giselle“. Es ist ein sehr traditionelles Ballett, dessen Choreografie und musikalische Struktur sich in allen klassischen Kompanien ähneln. Deswegen kann man, wenn man in Form ist, überall auf der Welt nach nur einer Woche Probenzeit „Giselle“ tanzen. Interessant daran ist aber, dass ich in diesem Stück, das ich schon sehr oft getanzt habe, immer noch bei jeder Wiederaufnahme ein paar Nuancen verändere und mir neue Fragen stelle. In anderen Klassikern wie beispielsweise Nurejews „Schwanensee“ kann man nicht wirklich viel verändern. In „Giselle“ hingegen hat man viel mehr Freiheit als man glaubt, man kann freier wählen und kann mehr von sich selbst in das Stück einbringen als in anderen Balletten. Deswegen ist es sehr angenehm zu tanzen und immer wieder von neuem interessant.
Stilistisch und vom Typ her sind Sie vor allem im klassischen und neoklassischen Repertoire zuhause. Tanzen Sie gerne zeitgenössische Stücke?
Mathieu Ganio: Mich interessiert am zeitgenössischen Tanz besonders, dass man einem Choreografen begegnet und direkt mit ihm arbeiten kann, so dass ein wirklicher Austausch zustande kommt. Der Choreograf kann einem erklären, warum man gewisse Dinge tut – so versteht man den Sinn der Bewegungen, die man ausführt. Ich finde das sehr spannend, da es eine andere Sprache ist und eine neue Vision des Tanzes eröffnet. Auch das Publikum hat einen anderen, viel frischeren Blick auf zeitgenössische Stücke. Wenn man „Dornröschen“ oder „Don Quichotte“ tanzt, ist man an manchen Stellen vielen Erwartungen ausgesetzt, da einige Zuschauer schon sehr viele andere Tänzer in denselben Rollen gesehen haben – dadurch besteht die Gefahr, dass das Ganze etwas mechanisch wird.
Ich denke, dass man in zeitgenössischen Balletten das Publikum besser durch Facetten seiner Persönlichkeit überraschen kann – es kommt mehr darauf an, was man ausdrücken kann als darauf, wie viele Pirouetten man gedreht hat. Natürlich gibt es verschiedene Arten von Tänzern. Es gibt Leute, die wirklich die Herausforderung lieben und sich fragen: Werde ich das schaffen, wird das Publikum an dieser Stelle klatschen? Das ist ein bisschen wie ein Wettbewerb. Ich sehe mir das gerne an und bewundere die Kühnheit der Tänzer, die sich selbst übertreffen und technische Wunder vollbringen; das kann sehr faszinierend sein. Aber für mich ist es genauso interessant, auf die Bühne zu gehen und sich zu sagen, dass man die Vorstellung wirklich genießen wird und dass auch das Publikum sie so gut wie möglich genießen sollte. Ich denke, das ist genauso eine Mission wie die, die Zuschauer zum Applaudieren zu bringen. Ich persönlich bin eher dafür geschaffen und das interessiert mich mehr.
Aber der zeitgenössische Tanz umfasst natürlich ein sehr weites Spektrum, und es gibt Dinge, die ich nicht gerne machen würde – für mich ist es wichtig, dass ein Stück etwas aussagt oder eine Inspiration, eine Emotion enthält, die ich in der Choreografie wahrnehme.
JB: Bei unserem letzten Interview sagten Sie mir, Sie würden gerne bei einer Uraufführung mitmachen. Inzwischen ist das mehrmals geschehen. Wie waren Ihre Erfahrungen?
Mathieu Ganio: Es war sehr interessant für mich, an den Uraufführungen von „Caligula“, „Psyche“ und „Kinder des Olymp“ teilzunehmen. Oft handelte es sich dabei um echte Teamarbeiten – die Choreografen haben sich also weniger auf einzelne Tänzer und ihre persönlichen körperlichen und schauspielerischen Möglichkeiten konzentriert. Bei „Kinder des Olymp“ zum Beispiel hatten José Martinez und seine Assistenten bereits eine ziemlich klare Idee im Kopf, was sie machen wollten, und natürlich war ihre große Inspiration der Film. In „Psyche“ hat Alexei Ratmansky mit allen Besetzungen gleichzeitig gearbeitet – das ist natürlich demokratischer und angenehmer für die zweite und dritte Besetzung, die sich nicht gezwungen fühlen, jemand anderen zu imitieren. Aber für mich wäre es etwas ganz Besonderes, wenn eines Tages ein Choreograf von mir inspiriert würde und eine Rolle wirklich für mich kreieren würde.
Vor einigen Jahren litten Sie öfter an Verletzungen, die Sie nun seit längerer Zeit überwunden haben – gibt es ein Geheimnis?
Mathieu Ganio: Ich habe die Alexander-Technik entdeckt, die vor allem von Sängern angewandt wird. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, aber seit ich sie praktiziere, ist nichts mehr passiert – ich hoffe, es geht so weiter! Wenn man schwere Verletzungen hat, stellt man sich oft in Frage, und das erlaubt einem, nachzudenken und Bilanz zu ziehen über alles, was man gemacht hat. Für mich war es besonders schwierig, zu akzeptieren, dass die Zeit vergeht. Ich erwartete nach meinen Verletzungen, in derselben Form zurückkommen und meinem Körper genau dieselben Dinge abverlangen zu können wie vorher. Das hat nicht funktioniert und deswegen war ich frustriert. Von dem Moment an, wo ich akzeptiert habe, dass mein Körper sich verändert, habe ich mir gesagt: ich muss andere Leistungen bringen. Vor allem aber muss ich aufhören, davon zu träumen, jemand anders zu sein und endlich akzeptieren, wer ich wirklich bin.
Sie haben mir gesagt, „Kameliendame“ und „Onegin“ seien zwei Ihrer Lieblingsballette. Die Rolle des Armand scheint wie für Sie geschaffen, die des Onegin weitaus weniger. Wie sind Sie an diese beiden Rollen herangegangen?
Mathieu Ganio: Ich habe mich sehr gefreut, an der Pariser Erstaufführung der „Kameliendame“ teilnehmen zu dürfen: alle waren neu in dem Stück und es ging vor allem um die Emotion. Es war sehr wichtig, dass man ein bestimmtes Gefühl ausdrückte – natürlich weiß man nie, wie es im Endeffekt herauskommt, aber ich fühlte mich freier und auch leichter in der richtigen Stimmung. Armand ist eine Figur, die zu meinem Charakter und meinem Typus passt; insofern habe ich mich in der Rolle wohlgefühlt und konnte sie mit einer gewissen Sicherheit angehen. Ganz anders Onegin: niemand konnte sich vorstellen, dass ich diese Rolle tanze. Es war sehr schwierig für mich, diese Figur zu verstehen. Am Anfang habe ich mir Onegin als einen etwas blasierten, gelangweilten Dandy vorgestellt, der zu sehr in seiner Welt ist, um sich wirklich für sein Umfeld zu interessieren. Aber dann hat man mir gesagt, ich sähe zu jung, zu romantisch aus und Onegin müsse älter, bösartiger und am Ende gewalttätiger sein. Deswegen habe ich versucht, älter zu wirken und irgendwie nicht wie ich auszusehen. Dennoch fiel es mir immer noch schwer, Onegin zu verstehen. Ich habe mich gefragt, wie man dermaßen zynisch sein kann. Es gab einen Moment, an dem ich mir sagte: ich verstehe wirklich nicht, wer er ist.
Als ich „Caligula” getanzt habe, war meine Figur auch nicht gerade sympathisch, aber es gelang mir, sie zu verstehen. Nicolas Le Riche hat mir außerdem genügend Erklärungen gegeben und so war ich nicht allzu beunruhigt. Caligula hatte auch nicht viel mit meiner Persönlichkeit gemein, aber ich konnte seinen Charakter ziemlich genau erfassen, seine Grenzen, die Stellen, die ich vertiefen konnte und an denen ich meine eigene persönliche Note einbringen konnte – in dieser Hinsicht war Onegin schwieriger. In „Onegin” habe ich zum ersten Mal versucht, wirklich ein anderer zu sein und eine Figur von A bis Z zu konstruieren; das war höchst interessant. Ich denke, dass es mich auch in meiner Entwicklung weitergebracht hat, etwas zu machen, was ich noch nicht konnte, mich in vielerlei Hinsicht in Frage zu stellen und herauszufinden, wie ich ungewohnte Dinge ausdrücken konnte. Das erfordert immer eine gewisse Konzentration in meinem Spiel, während ich tanze, damit ich nicht das mache, was für mich natürlich wäre. Wenn ich mich von meinen Gefühlen mitreißen lasse, geht das leicht in eine falsche Richtung. Deswegen musste ich sehr auf meinen Ausdruck aufpassen, um immer etwas kühl und distanziert zu wirken und mich nicht der Emotion hinzugeben, die in mir entstehen konnte.
Ein Wort zur Technik von „Onegin” und „Kameliendame”: diese Ballette enthalten viele schwierige Hebungen, die die französische Schule weniger kennt. War das eine Herausforderung für Sie?
Mathieu Ganio: Ja, es war sehr hart, aber ich persönlich liebe diese Hebungen. In diesen beiden Balletten hatte ich glücklicherweise Partnerinnen, mit denen ich mich sehr gut verstand. So bestand zwischen uns ein gegenseitiges Vertrauen, das es mir erlaubte, ohne Bedenken auf die Bühne zu gehen. Wenn Probleme auftauchten, konnten wir immer darüber reden und Lösungen finden.
Worin besteht für Sie der Unterschied zwischen Balletten wie „Onegin” und „Kameliendame” und anderen abendfüllenden Handlungsballetten des 20. Jahrhunderts? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie diese Rollen tanzen?
Mathieu Ganio: Mir persönlich geben diese Ballette die Möglichkeit, mich als Künstler ganz und gar auszuleben. Sie sind für mich die vollkommenste Ausdrucksweise, da man in diesen Stücken wirklich die Geschichte lebt. Man könnte sie zum Beispiel mit Ashtons „La Fille mal gardée” vergleichen. Mir hat dieses Stück wirklich gefallen, aber es bleibt Tanz um des Tanzes willen. Ich habe großen Spaß daran, weil ich Tanz liebe und gerne tanze, aber es enthält nicht die Emotionen oder die Psychologie, an denen „Kameliendame” und „Onegin” so reich sind. Das Interessante an „La Fille mal gardée” ist seine etwas unschuldige, naive Seite, die tanzenden Hühner... So etwas würde man heute nicht mehr machen, aber die Leute kommen auch geradedafür und man verbringt einen schönen Abend.
Nurejews „Romeo und Julia” ist ganz anders: natürlich enthält das Stück eine Geschichte und Emotionen, aber vor allem einmal enthält es enorm viele Schritte. Man kann darin Emotionen weniger durch Spiel und Gesten, sondern fast nur durch die Choreographie und durch die Art ausdrücken, wie man sich bewegt. Das klappt manchmal ganz gut, aber man lebt die Rolle weniger, da man sich immer stark darauf konzentriert, die Schritte richtig auszuführen. Wenn man einfach nur eine Geste macht und seine Partnerin anblickt, hat man Zeit, den Moment zu genießen, aber wenn man auf diegleiche Musik Pirouetten und Tours en l’air machen muss, vergeht die Zeit im Endeffekt viel schneller.
In Balletten wie „Onegin” oder „Kameliendame” braucht man sich nur zu sagen: damit es klappt, muss ich alles auf der Bühne geben und die Geschichte hundertprozentig leben. Das ist wunderbar. Wenn man in einem solchen Ballett einen kleinen Fehler in einer Variation oder einem Pas de deux macht, wird man nicht das ganze Stück über daran denken und das Publikum wird nicht so sehr darauf achten. In solchen Balletten zerstört ein kleiner Ausrutscher nicht die Atmosphäre: manchmal kann es sogar zur Geschichte passen, weil eine Figur sich gehen lässt und aus Hingabe oder Leidenschaft vielleicht kurz die Kontrolle verliert... Deswegen sind solche Stücke befreiender und man kann in ihnen spontaner sein.
Was reizt einen jungen Tänzer wie Sie heute an „Onegin”, fast fünfzig Jahre nach seiner Uraufführung?
Mathieu Ganio: Ich finde, dieses Ballett kann den Tänzern und dem Publikum heute noch sehr viel geben. Die Gefühle und die Geschichte, die es erzählt, könnte man heute noch genauso erleben, wenn auch nicht genau unter denselben Bedingungen. Die choreografische Sprache hat nichts Veraltetes und die Art, wie die Geschichte erzählt wird, ist das ganze Stück über kohärent. Da alles durch den Tanz und das Spiel ausgedrückt wird, kann man es immer aktuell interpretieren. Bei Balletten, die viel Pantomime enthalten, ist es anders, weil nicht jeder die Codes versteht und diese Sprache leicht veraltet wirken kann, was eine gewisse Distanz schafft. „Onegin” kann man sehr natürlich spielen, es ist zeitlos. Es geht darum, dass eine Person von heute sich mittels ihres Körpers ausdrückt, und das ist immer aktuell.
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