Stellvertreter Terpsichores und Apolls: George Balanchine zum hundertsten Geburtstag

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Stuttgart, 22/01/2004

Aus einem langlebigen georgischen Geschlecht stammend, war Georgi Melitonowitsch Balanchiwadse, der als George Balanchine der berühmteste Choreograf des 20. Jahrhunderts wurde – manche behaupten sogar der Ballettgeschichte –, davon überzeugt, dass er uralt werden würde. Dann hätte er heute seinen hundertsten Geburtstag feiern können. Dazu hat es denn doch nicht gereicht, denn sein Tod liegt nun auch schon wieder 21 Jahre zurück. Doch auch ohne ihn feiern die Freunde des Balletts in aller Welt den heutigen Tag als einen Red-Letter-Day der Ballettgeschichte.

Mit den 425 in seinem „Catalogue of Works“ verzeichneten Balletten – nicht gerechnet die zahlreichen Choreografien im Off des Broadway, des Films, der Oper und sonstiger Nebenbetätigungen – tritt er in Direktkonkurrenz zum Köchelverzeichnis der Werke Mozarts. Hier ist nicht der Ort, erneut die Stationen seines Lebens zwischen dem zaristischen St. Petersburg und New York zu rekapitulieren oder die stilistische Entwicklung seiner rund sechzig Jahre währenden kreativen Aktivitäten aufzuzeigen. Darüber ist von kompetenten Autoren viel geschrieben worden – und das gerade auch in diesen Tagen der Vorbereitung seines Zentenarjubiläums (in diesem Zusammenhang möchte ich mit Nachdruck auf den fabelhaften Artikel von Gerhard Brunner „Wie das Licht durch ein Prisma“ hinweisen, der am 17. Januar in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist – nachzulesen auch im www.tanznetz.de).

Dagegen möchte ich ein paar Erinnerungen hervorkramen, denn sicher gehört die Begegnung mit Balanchine, seinen Balletten und seiner Kompanie zu den glücklichsten Erfahrungen meines Lebens. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich zuerst von diesem Ballettwunder aus Amerika gehört habe. Doch als ich die ersten Vorstellungen des New York City Ballet bei den Berliner Festwochen 1952 im Schiller Theater und in der Städtischen Oper (dem heutigen Theater des Westens) sah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ja, genau das war es, was ich mir als mein künstlerisches Ideal vorgestellt hatte: diese vollkommene Partnerschaft zwischen der Musik (der meine erste Liebe gehörte, denn als Schüler hatte ich mir vorgenommen, der Nachfolger Furtwänglers zu werden) und dem Theater (das damals für mich die Oper darstellte). In den folgenden Jahren, bei den Gastspielen in München, Stuttgart und im Berliner Titania-Palast ging mir erst richtig diese so vollkommen harmonische Verbindung der beiden Künste auf. Sie hat mich für mein Leben geprägt – und mich hochgradig sensibilisiert für den Umgang der Choreografen mit der Musik.

Zuerst habe ich Balanchine nur bei offiziellen Pressekonferenzen getroffen, dann auch schon mal zu kurzen Gesprächen in der Pause, auf der Bühne oder in den Garderoben – sehr häufig dann bei meinem ersten wochenlangen Aufenthalt 1964 in New York, wo ich in den Studios des New York City Ballet und der School of American Ballet freien Zugang hatte und auch bei den Eröffnungsvorstellungen im New York State Theatre dabei war. Noch später dann bin ich ihm täglich bei den mehrwöchigen Fernsehproduktionen in Berlin begegnet, sind wir auch schon mal zusammen essen gegangen. Ich fand ihn immer von ausgesuchter Höflichkeit und Freundlichkeit. Immer ging es in unseren Gesprächen um die Musik. Die Musik war sein Lebenselixier, er konnte sich nicht vorstellen, ohne sie zu existieren – schon gar nicht als Choreograf. Weswegen er sich auch – ohne jegliche Überheblichkeit – als irdischer Stellvertreter Terpsichores verstand, der von Apollo als Muse des Tanzes eingesetzten Dame des Olymps.

Vielleicht war er aber doch noch mehr der Statthalter Apollos auf Erden – denn Terpsichore ist schließlich nur eine Beauftragte, eine Ausführende – Apollo aber ist der eigentliche Kreator. Mit dem Ballett „Apollon musagète“ hat Balanchine 1928, gerade mal 24 Jahre alt, zu sich selbst gefunden – es ist sein erstes Meisterwerk, das sich bis heute im Repertoire gehalten hat. Apollo als Stifter der Ordnung im Olymp – wie Balanchine nach den mancherlei modischen Extravaganzen der Ballets Russes in ihrer letzten Phase das Ballett wieder zur Ordnung gerufen hat, zur Besinnung auf seine Wurzeln. Dass Strawinsky dieses Ballett in amerikanischem Auftrag komponiert hat (es ist denn ja auch noch vor Balanchine von Adolf Bolm in Washington zur Uraufführung gelangt), ist eine hübsche Pointe. So konnte „Apollon musagète“ zum Brückenschlagwerk zwischen der europäischen Tradition und der amerikanischen Zukunft des Balletts werden, die Balanchine als Kreator für den Rest des Jahrhunderts an der Schwelle des neuen Jahrtausends gerettet hat.

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