Reid Anderson verlängert seinen Vertrag bis 2009

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Stuttgart, 30/03/2004

Große Genugtuung, ja Freude darüber, dass Reid Anderson seinen Vertrag als Intendant des Stuttgarter Balletts bis 2009 verlängert hat – sogar mit einer Option darüber hinaus. Unseren Glückwunsch – vor allem aber können wir uns selbst beglückwünschen, dass wir ihn haben und behalten werden, denn die Abwerber sind unterwegs. Was ja auch kein Wunder ist angesichts seiner so erfolgreichen Ballettpolitik! Das scheint indessen einigen Leuten hierorts kaum bewusst zu sein, wenn man an den einen oder anderen Kommentar zu diesem Top-Event denkt.

Was wurde in Stuttgart für ein Gedöns gemacht um die notwendig gewordene Berufung der beiden anderen Intendanten für Oper und Schauspiel! Was für ein Geschrei gibt es in der deutschen Presse jedes Mal wenn Peymann oder Castorf mit ihrem Rücktritt drohen, von Thielemann in Berlin oder Jonas in München nicht zu reden. Ist man sich Andersons in Stuttgart so sicher – nimmt man seine erfolgreiche Arbeit vielleicht sogar allzu selbstsicher zur Kenntnis? Wo blieben die großen Interviews nach der Bekanntgabe seiner Verlängerung, was er sich denn für die nächsten sechs Jahre in Stuttgart vorgenommen hat? Wie sieht er heute, in seiner neunten Spielzeit als Leiter der Kompanie, den Stellenwert des Stuttgarter Balletts als Erbe von John Cranko und Marcia Haydée? Wo steht das Stuttgarter Ballett im Vergleich zu den anderen deutschen Opernballetten (Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Hannover, Dresden, Leipzig, München – mit Frankfurt als Sonderfall – vielleicht sollte man ja auch Wien und Zürich in diese Tour d´horizon einbeziehen)?

Und wie ist es um die internationale Reputation der Kompanie bestellt? Dabei gäbe es doch Fragen genug! Sicher nicht, was die Pflege des Cranko-Erbes angeht – die Hauptsäule des Stuttgarter Repertoires erweist sich auch dreißig Jahre nach seinem Tod als unvermindert tragfähig und zeigt keinerlei Materialermüdung. Auch mit seinen Aufträgen an junge Choreografen, sowohl im Hinblick auf den Erwerb von Stücken, die sie anderweitig kreiert haben als auch gerade mit seinem Mut zu Uraufführungen, bei denen man ja nie weiß, wie es ausgeht, scheint Anderson ausgesprochen vom Glück begünstigt (sehr im Gegensatz etwa zu seinem Münchner Kollegen). Zusammen mit den Unternehmungen der Noverre-Gesellschaft fungiert das Stuttgarter Ballett nach wie vor als Kreativitäts-Factory der deutschen Ballettszene.

Nicht so glücklich bin ich mit den Klassiker-Produktionen des Stuttgarter Balletts – im Gegensatz zum hiesigen Publikum, das nach wie vor die „Schwanensee“- und „Giselle“-Vorstellungen stürmt. Die beiden Produktionen sähe ich gern durch neuere Inszenierungen ausgetauscht – es müssen ja nicht unbedingt die Mats-Ek-Versionen sein, ich wäre auch mit Matthew Bourne ganz zufrieden. Regelrecht fürchten tue ich mich vor den demnächst wohl unvermeidbaren Neuproduktionen von „Coppélia“, „Nussknacker“ und „Cinderella“ – besonders im Hinblick auf die Zumutung des Stuttgarter „Don Quixote“. Was ich mir wünschte, wäre natürlich der Import weiterer Choreografien von Balanchine, Robbins, Béjart, van Manen, Kylian, Forsythe etc.pp. – auch Daniela Kurz und Martin Schläpfer wären hochwillkommen. Und hat Anderson wohl einmal zur Vervollständigung der Abendfüller (und die sollte unbedingt weitergeführt werden – auch wenn sie einigen Kritikerkollegen gründlich missfällt) an Peter Breuer gedacht, der zu den ganz wenigen Choreografen der mittleren Generation gehört, die die Gattung des abendfüllenden Handlungsballetts beherrschen?

An eine abendfüllende Kreation von Neumeier wage ich dagegen gar nicht erst zu denken. Natürlich gäbe es noch viele weitere Fragen an Anderson. Was ich nicht verstehe, ist, dass er mit einem Tänzer wie Eric Gauthier im Ensemble sich die Gelegenheit entgehen lässt, von einem Choreografen der jüngsten Generation ein Rock-Ballett für die Stuttgarter Kompanie kreieren zu lassen und damit ein ganz neues Publikum zu rekrutieren. Aber vielleicht hat er ja Angst davor, weil er schon nicht weiß, wie er denn die Vorstellungsansprüche des existierenden Publikums befriedigen soll. Ist ja auch schwierig, wenn man – wie fast jeder Tänzer bestätigen wird, der eine Vorstellung im Stuttgarter Großen Haus getanzt hat – mit dem besten Ballettpublikum der Welt zu tun hat!

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