Korrekt verknotete Tänzer

Der alljährliche „Blick hinter die Kulissen“ beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 01/02/2004

Sie kommen alle wieder zurück, ob sie im Streit oder in Wehmut geschieden sind: Wer einmal im Stuttgarter Ballett war, benutzt bei seiner Rückkehr Vokabeln wie „zuhause“ und „Heimkehr“ und wird seitens des Publikums mit großer Wärme empfangen – so auch beim sechstägigen „Blick hinter die Kulissen“, der alljährlichen Veranstaltungsreihe im Kammertheater.

Der erste der Heimkehrer machte Ballettdirektor und Moderator Reid Anderson auf seinem ureigensten Gebiet Konkurrenz: bei der Charme-Offensive. Der ehemalige Solist und Publikumsliebling Krzystof Nowogrodzki, der Stuttgart 1999 gen Birmingham verlassen hatte, musste wegen einer Knieverletzung seine Karriere beenden und ist jetzt frischgebackener Ballettmeister (ab nächster Spielzeit beim Königlich Schwedischen Ballett in Stockholm). Er sieht seine Aufgabe ganz offensichtlich nicht nur darin, die Tänzer morgens aufzuwärmen, sondern sie hellwach, neugierig und bestens aufgelegt in ihren Proben-Alltag zu schicken. Das führte er bei eine Probe-Training mit soviel Witz, Geist und Energie vor, dass sowohl Zuschauer wie die bei allem Spaß enorm geforderten Tänzer seinem Flirtfaktor rückhaltlos erlagen. Ein weiteres Veteranentreffen unter den Ballettfans verursachte der 61-jährige Egon Madsen, dem ein Abend mit zahlreichen Video-Ausschnitten und einer liebevollen Spontan-Choreografie von Christian Spuck für Madsen und Eric Gauthier gewidmet war. Auch wenn seine Locken inzwischen weiß sind, ist Madsen immer noch der Joker, der Pantomime und Clown, der nichts lieber tut, als sein Publikum zum Lachen zu bringen - wie auf vielen der Ausschnitte von „Romeo und Julia“ bis „Merryland“ beim NDT 3. Standing Ovations im Kammertheater.

Zwei der insgesamt acht Veranstaltungen waren wieder dem Rolleneinstudieren gewidmet. Die nimmermüde Choreologin Georgette Tsinguirides, die jede Bewegung jedes Cranko-Balletts im Kopf hat (ihre Notationsbücher sind laut Reid Anderson „nur Attrappe“) behielt beim Gebalze der drei Freier um Bianca aus „Der Widerspenstigen Zähmung“ souverän den Überblick, entknotete den Neulingen in diesem chaotischen Pas de quatre Arme und Beine und verschlang sie wieder korrekt. Wie man den bereits erlernten Rollen den letzten Feinschliff verleiht, führte Ballettmeisterin Valentina Savina in ihrem ganz speziellen Unterrichts-Kauderwelsch aus vier verschiedenen Sprachen vor. Völlig versunken in die Geschichte von Giselle und Prinz Albrecht feilte sie an den Rollen, erklärte die Motivationen, die Mimik des romantischen Balletts. Umso verwunderlicher, dass keiner der vier anwesenden Ballettmeister oder Direktoren der ersten Solistin Alicia Amatriain auch nur nahelegte, die zarte Giselle doch bitte nicht mit dem Aplomb einer Lady Macbeth zu spielen. Aber die blonde Spanierin schien ohnehin beratungsresistent – ihre Show hieß an diesem Abend nicht „Giselle“, sondern „Alicia, die Ballerina“.

So schön und interessant sie auch immer aufs Neue sein mögen, ein wenig haben solche „Wie studiere ich eine Rolle ein“-Abende nun langsam den Beigeschmack von „the same procedure as every year“. Schön wäre auch mal etwas fürs Hirn und nicht nur fürs Auge: ein Vortrag, etwas Historisches oder ein bisschen Theorie – der hundertste Geburtstag von George Balanchine wäre vielleicht so ein Thema gewesen.

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