Ich bin eben was Besonderes

Ein Interview mit Stephen Galloway über seine Tätigkeit als Creative Manager der Rolling Stones, sein 20-jähriges Engagement am Forsythe-Ballett-Frankfurt und dessen unrühmliches Ende sowie seine Arbeitsweise als Kostümbildner

München, 06/12/2004

Lassen Sie uns mit einer Episode beginnen: Mick Jagger war letztes Jahr hier im Probenhaus des Bayerischen Staatsballetts, und ich glaube, er wurde von Ihnen dahin geführt. Wie kam das? 

Wir waren auf Tour hier in München zur Eröffnung der letzten Europa-Tournee, und wir wohnen immer im Hotel Vier Jahreszeiten. Wir hatten einen Tag frei, da war keine Probe und keine Show, und Mick ist ein großer Tanz-Fanatiker, darum habe ich Ivan Liska angerufen und gefragt: „Was probt ihr heute?“ Und er hat gesagt: „Komm doch vorbei.“ So einfach war das.

Haben Sie die ganze Tour der Stones begleitet? 

Ich bin Teil der Crew, erstelle das kreative Konzept und organisiere die Proben, d. h. ich bin von Anfang an bis ungefähr zur sechsten Show dabei. Das dauert insgesamt zwei bis drei Monate, dann gehe ich weg und mache alle meine anderen Arbeiten.

Weil die Stones dann von alleine rollen? 

Ja, ich komme aber immer wieder dazu, vor New York oder Los Angeles und vor den Fernsehauftritten, um alles aufzufrischen. Auch um die Videos, die bei den Konzerten eingespielt werden, in ihrer Länge neu anzupassen oder bei einzelnen Szenen das Licht zu korrigieren. Ich bin natürlich auch für die ganze Bewegung auf der Bühne verantwortlich, mit Mick, Keith, Ron... einfach um zu sehen, dass nicht alle auf einer Seite agieren, sondern dass alles harmonisch verteilt ist, jeder auf seinem Platz gut herauskommt, also das Gesamtbild stimmt. Am Ende tun sie natürlich schon, was sie wollen, es bleibt also spontan, und das macht viel Spaß.

Sind Sie für diesen Job dadurch qualifiziert, dass Sie von Forsythe kommen? 

Mick wollte mit mir arbeiten, weil er wusste, dass ich einen starken Hintergrund im Theater, im Tanz und auch in Mode habe. Er wusste, dass ich Kostümbildner bin...

Sorgen Sie auch dafür, was die Stones auf der Bühne tragen? 

Ich bin als kreativer Berater für das Gesamtbild zuständig, das Licht, sogar die Farbe des Bodens, das gesamte Styling. Es gibt natürlich spezielle Stylisten, aber ich gehöre zum Team dazu, um die gesamte Show zusammenzustellen. Dazu, dass Mick mit mir arbeiten wollte, trug bei, dass ich als Hintergrund die intensive Arbeit bei Forsythe und auch bei Issey Miyake habe, wo ich gleichzeitig sieben Jahre lang als Art-Direktor gearbeitet habe.

Haben Sie während Ihrer Beratertätigkeit für die Modeschauen von Issey Miyake umgekehrt bei ihm für Ihre Kostümbildnerei gelernt? 

Eigentlich war das eher Learning by Doing. Billy hat mich als Erster gefragt, ob ich die Kostüme für ein Ballett machen würde, und ich dachte: „Warum nicht?“ Inzwischen sind es 40 Ballette für ihn geworden. Ich bin durch meine Eltern mit Mode groß geworden, und Billy wusste das. Er hat gesagt: „Du bist auch Tänzer, also weißt Du, was sie tragen können und was nicht.“ Allerdings bin ich kein typischer Kostümbildner, weil ich meine Anregungen aus so vielen verschiedenen Bereichen hole und auch richtige Kleidung gestalte, die etwas Dramatisches hat. Da ich auch im Rock-Geschäft tätig bin, und zwar intensiv, ist das auch meine Welt. Durch meine Arbeit mit der größten Rockband habe ich deren Energie, bin aber gleichzeitig in der traditionellen klassischen, manchmal konservativen Tanzwelt tätig und versuche, diese beiden Welten zusammenzubauen.

Sie haben nicht nur mit modernen Produktionen zu tun? 

Nein, ich habe an vielen Häusern gearbeitet, z. B. der Pariser Oper, in Spanien, beim American Ballet Theatre, überall. Auch bei konservativen Stücken versuche ich immer neue Wege zu gehen. Dabei finde ich die Mischung von klassisch und sexy spannend. Manchmal inspiriert mich die Entwicklung von neuen Stoffen, und ich bin super neugierig auf Materialien, die normalerweise nicht für Tanz benutzt werden. Andererseits liebe ich es, manchmal im Fundus zu stöbern. In München habe ich wunderbare Stoffe gefunden, einen für eine Oper von 1971, ein unglaublicher Stoff, gekauft und nie zugeschnitten. Den habe ich für einen Teil in Michael Simons Stück benutzt. Aber für Century Rolls von Davide Bombana habe ich ein ganz neues, super sexy Trikotmaterial in New York gefunden, das normalerweise nur als Aerospace-Dynamic unter der Kleidung verwendet wird. Für mich ist es aufregend, verschiedene Materialien zu kombinieren und diese beiden Welten verschmelzen zu lassen.

Wenn Sie so einen ganz neuen Stoff finden, benutzen Sie ihn, wie er ist, oder färben Sie ihn neu ein? 

Das kommt drauf an. Ich habe mit Davide Bombana und Michael Simon einen intensiven Austausch über ihre Vorstellungen, versuche dann, das umzusetzen und mache sehr viele Vorschläge, wie etwas funktionieren kann und was es Neues gibt. Ich versorge sie mit Informationen und hoffe, dass wir uns auf einer Ebene mit dem, was sie sich vorstellen können, treffen.

In Century Rolls von Davide Bombana gibt es sehr poppige Farben. 

Ja, sehr starke strahlende Farben. Wir haben uns sehr damit beschäftigt, wie die Augen auf verschiedene Farbkombinationen reagieren. Denn normalerweise würde man diese Farben so, wie wir es gemacht haben, nicht kombinieren. Aber wir haben es probiert, und es sieht super aus: Orange mit Blutrot oder Techno-Grün mit einem Papst-Lila, dazwischen ein Puderblau in einem utopischen Stoff, und dann kommt Hautfarbe – so wollen wir das Auge überraschen.

Hautfarbe? Dann sehen die Tänzer ja nackt aus.

Nein, wir denken es nur, aber es sieht nicht so aus. Deswegen war es auch so interessant mit diesen hautfarbenen Trikots, die tatsächlich zur Frage Anlass gaben, warum sie nicht nackt auftreten sollten. Aber das Ergebnis unterscheidet sich, und Nacktheit ist wieder etwas anderes und sollte nur sehr speziell eingesetzt werden.

Themenwechsel: Was war denn damals der Anlass, dass Sie als Tänzer von New York nach Frankfurt gekommen sind? 

Ich bin eigentlich nicht direkt nach Frankfurt gekommen. Ich habe auch an sich nicht aufgehört zu tanzen, aber ich tanze nicht mehr mit der Forsythe-Company, da sie geschlossen wurde. Auch danach war ich noch Angestellter der Stadt Frankfurt. Aber als sie das Ballett abgeschafft haben, haben sie versucht auch mich abzuschaffen. Ich war immer eine schlechte Erinnerung an bessere Zeiten.

Weil Sie als eine Art Markenzeichen zuviel Identität mit dem Forsythe-Ballett verkörperten? 

Ja. Und dann haben sie versucht mich zu mobben, indem sie mir den Job als dritter Regieassistent für zweitklassige Opern anboten. Ich war unkündbar, also ein schwieriger Fall. Und ich war sehr traurig, weil ich das Haus wirklich geliebt habe, denn ich habe fast 20 Jahre meines Lebens in diese Städtische Bühne investiert. Und dann kommen Leute, die sind einfach nur Bürokraten, die haben kein Verständnis für die Kunst...

Dafür, wie schwierig und kostbar es ist, so ein Ensemble zu haben? 

Ja. Es ist merkwürdig, ich habe darüber noch nie öffentlich geredet, aber ihr seid hier alle nette Leute, also kann ich darüber reden. Es sind ja alte Geschichten, ich bin auch selbstsicherer, und inzwischen ist es egal. Es war aber trotzdem eine traurige Angelegenheit, weil sie auch niederträchtig waren, denn sie wollten mich loswerden. Andererseits waren sie auch vorsichtig, weil sie wussten, dass ich schon einen Namen habe in der Welt – und nicht nur in Frankfurt. Aber sie haben es mir so schwierig wie möglich gemacht.

Indem sie Sie dahin gebracht haben zu sagen: „Ich kündige?“ 

Ja. Ich meine, ich war Solotänzer, ich habe vor der Königin von England getanzt, habe zahlreiche Tanz- wie auch Kostüm-Wettbewerbe gewonnen, und dann sollte es heißen: „Können Sie mir bitte eine Tasse Kaffee bringen, Herr Galloway?“ Es war unglaublich! Ich habe so viel vorgeschlagen, was ich für das Theater machen könnte, denn ich wollte dort bleiben; es war ja mein Zuhause und wirklich wie meine Familie, von der Putzfrau bis zum Kapellmeister. Die haben mich kennengelernt, als ich 17 Jahre alt war. Ich hatte so viele Ideen, dass ich der kreative Direktor für die ganze Stadt hätte sein können, und Beziehungen zu Leuten, an die sie nicht so einfach herangekommen wären wie ich. Aber sie waren ängstlich und haben gesagt: „Lieber raus mit ihm!“ Jetzt versuchen sie es mit drei meiner ehemaligen Kollegen, die noch da sind und diesen Regieassistenten-Job machen. Gottseidank musste ich das nie, weil ich auch sonst genügend zu tun hatte mit meinen freien Jobs und meiner Arbeit mit den Stones. Ich mache auch selbst Musik, habe Aufträge für Kostüme und meine Berater-Jobs in den verschiedensten Bereichen. Billy Forsythe hat mir die Freiheiten gegeben, manchmal zwei Monate nicht bei der Company sein, wenn ich z. B. für die Modenschauen oder mit den Stones unterwegs war. Er war klug genug zu sehen, dass ich all diese verschiedenen Einflüsse und Informationen mit zurückbringe...

Um wie in einer Art Netzwerk diese neuen Erfahrungen zu nützen? 

Natürlich. Aber diese neue Städtische Bühne legte darauf keinen Wert, es schien ihr besser, Informationen überhaupt nicht zu bekommen. Eigentlich sehr provinziell. Doch so läuft deren Politik, und das Haus wird inzwischen amerikanisiert, kommerzieller und in seiner Qualität schlechter. Vielleicht bin ich voreingenommen. Einige der Tänzer hätten aber wie reines Gold in ihren Händen sein müssen, doch sie haben dort leider keine Visionen. Um ein Opernhaus auch in Zukunft erfolgreich zu führen, braucht man aber eine Vision. Es muss immer eine Herausforderung geben und einen Schritt weitergehen. Das habe ich auch von Forsythe gelernt: Alles immer wieder in Frage zu stellen und den Leuten nicht nur das zu geben, was sie erwarten, sondern das, was sie brauchen. Wenn ich das in meinen Kostümen umzusetzen versuche, können dabei verrückte Farbkombinationen oder ein Tanz-Anzug aus Holz herauskommen – das nur als Beispiel. Ich meine, es ist jetzt nicht die Zeit für Mediokrität...

Mich wundert immer noch, wie Sie mit 17 Jahren schon so weit sein konnten, dass Sie zu Forsythe nach Frankfurt kamen.

Ich bin eben was Besonderes. Viele sind berufen, aber nur wenige sind auserwählt.

Zu lesen war, dass Sie vorher beim Pennsylvania Ballet und beim American Ballet Theatre waren und einen Wettbewerb gewannen – wie war das möglich? 

Ich versuche meine Biographien so verwirrend wie möglich zu gestalten.

Möchten Sie bitte unsere Vorstellungen etwas entwirren? 

Natürlich war ich zu jung, um schon engagiert zu sein. In Pennsylvania besuchte ich eine ganz kleine Schule und ging, als ich älter wurde, für das Sommerprogramm zum American Ballet. Ich habe zu tanzen angefangen, als ich 13 Jahre alt war, hatte also eigentlich nur vier Jahre Training, aber wirklich sehr gute Lehrer. Mit 17 gewann ich dann diesen Wettbewerb, das war noch klassisches Ballett. Der amerikanische Präsident vergibt jedes Jahr 140 Stipendien, davon 20 für Kunst in den Bereichen Tanz, Musik, Malerei, Theater und Literatur. Ich habe eins der vier für Tanz gewonnen. Da kann man entweder 10.000 Dollar bekommen oder aufs College gehen, wo dann für vier Jahre alles bezahlt wird. Ich wollte aber nicht aufs College, sondern Tänzer sein, also habe ich mir gesagt: „Take the money and run!“ 

Und dann setzten Sie gleich nach Europa über? 

Meine Lehrer wollten mich zum American Ballet Theatre schicken. Sie hätten mich gern als ersten schwarzen Prinzen in Dornröschen gesehen, ich wäre überall der erste gewesen, und das hat man mir auch immer wieder gesagt: „Du wirst der erste schwarze Prinz im Schwanensee an der Metropolitan Opera sein.“ Aber das war für mich nicht interessant, ich wollte nur tanzen. In Amerika regierte Reagan und es gab auf der Bühne keine allzu große Kreativität. Man wollte nur die traditionellen Stücke sehen und nicht genügend Zeit und Geld aufwenden, die man für Kreativität braucht, für die Freiheit, die Geld zum Experimentieren freisetzt. Wenn man mit 20 Vorstellungen von Dornröschen ein volles Haus hat, ist das sicherer. Auch wenn es einen jungen Choreographen gibt, der in zehn Jahren vielleicht der große Hit wäre, kann man ihm nicht die Freiheit zur Entfaltung geben, weil das Haus voll sein muss. So funktioniert das eben in Amerika, und jetzt übrigens auch in der Frankfurter Oper. Aber zurück zum Thema: Meine Lehrer waren Europäer und haben mich auf die Arbeit von Kylián, Béjart und Cranko aufmerksam gemacht. Diese Choreographen waren in den 80er Jahren in den USA nicht so bekannt. Nur wenn Béjarts Company nach New York kam, wurde das bekannt, aber nur in New York und vielleicht noch in Los Angeles. Es war eine Zeit, in der man nicht so viel mitbekommen hat. Ich war eine Ausnahme, kannte alle Stücke von Kylián, Béjart oder van Manen, und das war genau das, was ich wollte: Mit Choreographen arbeiten und nicht der erste schwarze Prinz im Schwanensee sein. Das war ich schon in der Schule.

Hätten Sie dann nicht zu einer Company gehen müssen, wo Kylián und van Manen getanzt wurden? 

Ich habe bei Marcia Haydée in Stuttgart und John Neumeier in Hamburg vorgetanzt und hätte überall Verträge bekommen, nur leider erst für das nächste Jahr. Ich wollte aber nicht nach Amerika zurück, weil ich mich dort schon von Freunden und Familie verabschiedet hatte. Marcia sagte: „Dann geh doch nach Frankfurt, die haben einen neuen Direktor, Bill Forsythe, und ich weiß, dass er Männer sucht.“ Zu dem Zeitpunkt hatte Uwe Scholz Zürich übernommen und viele Leute aus Frankfurt geholt. Bill hatte viele Verträge offen, es war perfekt, ich habe mich dort sofort zu Hause gefühlt.

Sie sind also in einer Company geformt worden, in der man alles anders machte als irgendwo sonst. 

Ja. Aber es war für mich ganz normal, weil ich noch keine anderen Erfahrungen hatte. Nach einem Jahr bin ich nach Amerika gereist und habe meine Mitschüler getroffen, die in bekannten Companies wie dem San Francisco Ballet oder dem New York City Ballet engagiert waren. Als einziger, der nach Europa gegangen war, wurde ich natürlich gefragt, wie es mir ergangen war. Ich erzählte, dass wir in Frankfurt manchmal einfach in einem Kreis sitzen und dann einer in die Mitte geht, um eine Choreographie selbst zu entwickeln. Die waren sehr erstaunt: „Wie bitte, improvisieren, was meinst Du denn damit?“ Da habe ich verstanden, dass ich an einem besonderen Platz arbeite, weil niemand anders solche Erfahrungen hatte. Ich werde es nie vergessen, wie bei uns auf der Bühne auf einmal auch gesprochen wurde, aber für Europa war das ganz normal. In Amerika gibt es das immer noch nicht, doch inzwischen wissen alle, wie berühmt das Ballett Frankfurt wurde, und kennen auch den Bekanntheitsgrad, den ich erreicht habe, weil ich von Anfang an dabei war. Ich bin ein Teil dieser Bewegung, die ich als Modernes Neoklassisches Tanztheater mit etwas klassischer Seele in all dem Modernismus beschreiben möchte, weil das das ganze Spektrum dessen erklärt, was wir in Frankfurt machten.

Da Sie dort immer in vorderster Reihe dabei waren, haben Sie wohl auch eine Rolle in Limb´s Theorem kreiert? 

Ich erinnere mich, dass drei Spielzeiten lang keiner das Ensemble verließ und keiner hinzukam. Und das ist ungewöhnlich. Man kann sagen, es waren die besten Jahre, weil alle blieben und es eine Kontinuität hatte, weil die Arbeit wichtig war. Ja, richtig, ich habe in Limb´s Theorem diese Rolle an der Wand kreiert, ich bin auch auf dem Plakat. Dieses Stück zeigt das Vokabular der Bewegung, spricht eine Sprache, die zeigt, was ist Forsythe und was nicht. Wenn das kopiert wird, ist es so, als ob jemand mit einem schlechten Akzent spricht. Niemand versteht es, man bekommt allenfalls einen vagen Eindruck, aber begreift nicht die Disziplin, die dahintersteckt. Auf der Gruppe seiner Tänzer von 1984 hat Bill die Zukunft aufgebaut. Es begann alles mit dem Stück Artefact, und von da an hat sich die Sprache entwickelt. Zu Bills größten Begabungen zählt in meinen Augen, die richtigen Leute zusammenzubringen. Darin war er ein Magier: Er brachte Leute zusammen, von denen niemand glauben würde, dass das funktionieren könnte, weil er nie Angst davor hatte, Leute mit den verschiedensten Hintergründen zu mischen.

Und ihnen dann Freiheit zu geben? 

Ja, das sagte er, so bekommt man diese Freiheit.

Wann hatten Sie das erste Mal die Idee, Kostüme zu machen? 

Fünf Jahre nach Artifact war ein Stück geplant, bei dem nur fünf Leute mitspielen sollten. Am Ende wurde Alie/n A(c)tion daraus, ein Drei-Akte-Ballett mit der gesamten Company. Ich hatte keine Ahnung was passierte. Fünf Kostüme traute ich mir zu, weil ich ein gutes Verständnis für Farben und Stoffe habe. Doch das dann für die ganze Company und eine Produktion von zweieinhalb Stunden mit wechselnden Kostümen...! Aber eine meiner guten Seiten ist, dass ich gern übertreibe, diesen Luxus leiste ich mir. Eine Arbeit atmet, sie entwickelt sich, und man muss fähig sein, mit ihr zu atmen. 

Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus? 

Es geht nicht, dass ich meine Entwürfe vorlege und sage: „Kurz vor der Premiere bin ich wieder da.“ Ich muss bleiben und die Nuancen, die Veränderungen verstehen. Gerade bei dem Stück von Michael Simon geht es um sehr individuelle Kostüme, die ich jeden Tag weiterentwickle. Da zählt, was jemand an einem bestimmten Tag anzieht; vielleicht gibt es ein Lieblings T-Shirt in Lila, das die Person gern trägt. Ich mag auch die kleinen Geschichten, die das Ganze interessant machen. So zu arbeiten braucht mehr Zeit, aber im Endeffekt wird es viel besser. 

Sie verfolgen also, wie die Proben sich entwickeln, der Charakter wird durch das Rollenstudium immer reicher und die Imagination, welches Kostüm passt, auch. Irgendwann muss doch aber auch geschneidert werden? 

Das mache ich jeden Tag. Okay, ich habe die Idee für ein T-Shirt...

Und dann proben die Tänzer jeden Tag in einem neuen Stadium des Kostüms? 

Ja, wie in einem Laboratorium, ich muss ja sehen, was geht und was nicht. Letzte Woche war ich mit einigen wunderschönen Haute-Couture-Stücken beschäftigt, die aus feinstem Stoff sind und vom feinsten Schnitt. Das muss perfekt aussehen! Nächste Woche kreiere ich weiter für einen ganzen Kleiderschrank, aus dem man sich bedienen kann. So arbeite ich gern. Man muss diese Tänzer optisch zur Entfaltung bringen, denn es ist ja ein Stück über Menschen, die sich selbst spielen werden. Sie tragen diese Haute-Couture-Kleider. Wir wollen die Leute auch unterhalten. Ich glaube es ist wichtig, dass wir die Menschen ins Theater bringen, sie unterhalten und dann mit der Qualität überraschen, die dahintersteckt.

Was der Unterschied zur kommerziellen Unterhaltung ist. 

Ganz genau. Das ist ein sehr luxuriöses Verständnis von Theater. Ich hasse es, wenn ich da hingehe, alles auf den ersten Blick offenliegt und mir nichts mehr zum Nachdenken bleibt. Als Zuschauer will ich mich herausgefordert sehen. Mit diesem Konzept sind wir in Frankfurt aufgewachsen, dass es darum geht, Fragen aufzuwerfen. Man kann den Leuten auch abstrakte klassische Form anbieten. Form zu interpretieren kann begeisternd sein. Wenn man nur die Formationen betrachtet, merkt man, dass das bei weitem nicht so flach ist, wie viele Leute glauben. Auch Architektur ist extrem emotional, selbst wenn sie sehr modernistisch wie bei Daniel Libeskind und solchen Architekten aussieht. Da kann man nicht nur Stein und Stahl oder Ecken und Kurven sehen, sondern es liegt eine Intensität darin, warum diese Leute ihre Entwürfe so und nicht anders gestalten. Diese Aspekte versuche ich in meinen Kostümen zu kombinieren.

Was hat sich für Sie verändert, seit es das Ballett Frankfurt, das Sie immer als Ihr kreatives Mutterschiff bezeichnet haben, nicht mehr gibt? 

Ich habe die Welt schon groß gesehen, aber sie ist noch größer, als ich dachte. Das habe ich bemerkt, seit ich noch mehr Freiheit habe, denn jetzt kann ich noch mehr machen. Früher bekam ich viele interessante Aufträge nicht, weil die Leute glaubten, ich sei ausgelastet. Jetzt ist die Herausforderung noch größer geworden. Die schlimmste Frage für mich war immer: „Was machen Sie?“ Denn die Wahrheit würde mir niemand glauben. Ich bin sehr glücklich, denn ich habe die Möglichkeit, mit den besten Leuten zu arbeiten, und das in allen Feldern, ob in Theater, Tanz, Musik, Architektur, Mode oder Film, ich arbeite nur mit den Besten und habe keinen Grund, noch mehr vom Leben zu erbitten. Als Kostümbildner probe ich zwar nicht mit den Tänzern, habe aber auch jetzt direkten Kontakt mit ihnen, und das macht schon Spaß, denn sie strahlen eine gute Energie aus, weil sie auch auf das äußere Bild sehr neugierig sind.


Dieses Gespräch wurde vor der Premiere des dreiteiligen Programms „Bombana/Simon/Godani“, an dem Stephen Galloway als Kostümbildner beteiligt war, geführt. Beim Bayerischen Staatsballett wird der Abend am 6. und 8. Dezember zum letzten Mal in dieser Spielzeit gezeigt.
Galloway hat auch eine zentrale Partie in „Limb´s Theorem“ kreiert, das am 20., 25. und 28. Dezember dieses Jahres im Münchner Nationaltheater letztmalig zu sehen ist.

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