Bestandsaufnahme statt Leistungsschau

„Das Eigene im Gefüge“ als Motto der Leipziger euro-scene 2004

Leipzig, 14/11/2004

Wohin immer man kam, stieß man auf markante, großflächige Werbung einheitlichen Designs. Leipzig bekennt sich zu seinem Festival und zieht inzwischen Zuschauer wie auch Fachpublikum von weither an. Die jüngste, 14. Ausgabe der euro-scene hatte es insofern in sich, als sie unter dem Motto „Das Eigene im Gefüge“ an neun Spielorten mit 25 Vorstellungen zeitgenössisches Theater und Tanzavantgarde aus den zehn Beitrittsländern der Europäischen Union präsentierte. Aus Ländern, von denen einige noch an der Wahrnehmungsperipherie europäischen Theaters liegen, stellten sich insgesamt 22 Kompanien dem europäischen Blick. Chance und Risiko zugleich: Was daheim bejubelt wird, muss vor den Toren Europas längst nicht bestehen können. Festivalleiterin Ann-Elisabeth Wolff war sich dieser Gefahren bewusst und entschied dennoch, jedem Land eine Plattform zu bieten. Bestandaufnahme statt Leistungsschau, um den Austausch befördern, Kontakte knüpfen zu helfen und auch jene zu inspirieren, die ganz am Anfang ihrer Entwicklung stehen. Im eigenen Dunstkreis zählen sie indes alle zu den Verdienstvollen, den Bewegern und Durchsetzern neuen Ideenguts, den Repräsentanten bei internationalen Festivals. Einige stehen gar landesweit allein auf weiter Flur. Die eine während der euro-scene gezeigte Arbeit kann das nur unvollkommen spiegeln und dient dem Betrachter dennoch als einziger Anhaltspunkt. Risiko eben auf allen Seiten.

Mit dem Gründungsjahr 1970 ist das Glej Theater aus dem slowenischen Ljubljana nicht nur die erste experimentelle Truppe des vormaligen Jugoslawien, sondern war auch die dienstälteste bei der diesjährigen euro-scene. Ihr Stück „Duell“ adaptiert die Geschichte des mittelalterlichen französischen Liebespaars Abelard und Héloise. Erst 2004 hingegen formierte sich im südzypriotischen Limassol die Tanzcompagnie InterAct, die sich mit drei weiteren Tanztruppen aus Limassol respektive Nicosia einen Abend teilte. Das staatliche Neue Theater Riga offerierte mit „Weiter“ nach Gorkis „Nachtasyl“ eine Inszenierung von Alvis Hermanis, der als einer der wichtigsten Regisseure Lettlands gilt. Seine Landsmännin Santa Grinfelde hatte für das 1979 entstandene Bewegungstheater Ansis Rutentals ein lettisches Märchen in Tanz transponiert. Litauens Kleines Theater Kaunas ließ unter dem Titel „Mietzekatze ‘>P<’““ vier Männer Eve Enslers „Vagina-Monologen“ neue Aspekte abgewinnen. Ebenfalls aus Kaunas kam mit einem Zweiteiler das von Isadora Duncan beeinflusste, seit 1980 bestehende Aura Modern Dance Theatre, das in seine sozialen Projekte Behinderte und Senioren einbezieht. Fast ausschließlich mit geistig behinderten Erwachsenen, gefunden in entsprechenden Einrichtungen, agiert das Theater Passage aus dem slowakischen Banská Bystrica. Der Blasenzirkus aus Budapest schließlich feierte seine Deutschlandpremiere mit der „anarchistischen Zirkus-Oper“ „Werfen wir die alte Tante auf den Mist!“ nach Dario Fo.

Extrem gegensätzliche Eindrücke hinterließen die fünf besuchten Programme. Den radikalsten bot das Teatr Wspólczesny Wroclaw mit seiner vielfach ausgezeichneten Inszenierung von Sarah Kanes Gewaltorgie „Gesäubert“. Krzysztof Warlikowski schuf eine in geschlossener Anstalt und stetem Zwielicht angesiedelte, ästhetisch stimmige, beinah verinnerlichte Lesart, eindringlich, leise noch in den Verstümmelungsexzessen, mit fast liebevoller Tragik die Spielarten menschlicher Liebe vorführend. Als am meisten Geschädigter erweist sich am Ende die Figur des sadistisch folternden Psychiaters, als stark bleibt das Darstellernonett im Gedächtnis.

Den Ruf des schwächsten Beitrags muss sich Malta auf seine blaukreuzige Fahne schreiben. Francesca Abela Tranters 1999 geformte Contact Dance Company ist als einziges professionelles Ensemble der Inselrepublik vielgefragt und wirkt doch eher amateurhaft. Allenfalls ein gleichbleibend sportiver, kontaktimprovisatorischer Tanzstil lässt sich in den vier Stücken als choreografische Handschrift ausmachen, deren ständigen Hebekaskaden sich die fünf properen maltesischen Mädchen in undelikat enthüllenden Kostümen mit physischem Furor entgegenwerfen. Bach verweigert sich jenem Stil, mit Cage in perkussiver Live-Umsetzung boten sich Treffpunkte. Auch wenn Mart Kangros Solo „Mart auf der Bühne“ der Schlusseinfall fehlt, trägt seine Persönlichkeit die Idee: 45 Minuten lang plaudert der estonische Ex-Ballerino in der Soutane des Pater Lorenzo über seine in der Tallinner Oper oft getanzte Partie, philosophiert über das jeweilige Paar Romeo und Julia, verbalisiert Spielmotivationen, Pausenreflexionen. Wie eigenständig der Weg nach Europa sein sollte, beweist seine Kollegin Renate Keerd mit ihrem von einer unprätentiös derben Bewegungssprache und erdiger Poesie getragenen Duett „Bewegtes Zuhause“. Ein Mann, eine Frau, zwei Paar Stiefel und Dias der heimischen Landschaft verquicken sich zu liebenswert lebensvollem Tanztheater.

Zuzana Hájkovás Studie „Stille Wüste“, die aus volutenförmigen Versatzstücken geschickt Dünen und intime Räume bildet, fehlt es an dramaturgischer Zugkraft, tänzerischer Durchformung und choreografischem Zündstoff. Dass die fünf Mitglieder ihres Stúdio tanca aus Banská Bystrica in gleich guter Qualität tanzen wie die tschechischen Teilnehmer, weist auf die seit jeher besseren Ausbildungsmöglichkeiten für zeitgenössischen Tanz im einstigen Staatenbund hin. Der tschechische Abend junger Choreografinnen imponierte mit dem intimen, subtil ausgeleuchteten Doppelduett „Aigues-Mortes - Totes Wasser“ von Vera Ondrasiková, dem gespenstischen Frauenquintett „Die Bräute des Charon“ des Duos Celbová/Vitousová und Petra Hauerovás effektvollem Lasersolo „Nachtfalter“.

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