Barock und Postmoderne

Brown/Forsythe/Lancelot an der Pariser Oper

Paris, 22/12/2004

Der dritte Ballettabend dieser Spielzeit im Palais Garnier hat es sich zum Ziel gesetzt, die Anfänge des Balletts im Barock mit der Gegenwart des postmodernen Tanzes zu verbinden. Zu diesem Zweck beginnt der Abend mit einer Hommage an die vor einem Jahr verstorbene Choreografin Francine Lancelot, Spezialistin für den höfischen Tanz, und leitet von dieser zu zwei Hauptfiguren des postmodernen Tanzes über, Trisha Brown und William Forsythe. Lancelot hatte 1984 das Solo „Bach Suite“ für Rudolf Nurejew geschaffen, doch handelt es sich hier nicht um eine bloße Wiederaufnahme, sondern um eine veränderte Fassung, die unter dem Titel „Bach Suite 2“ nun erstmals aufgeführt wird.

Die Ausstattung des Stückes ist eher minimalistisch als prunkvoll: schwarzer Hintergrund, ein Cellist am linken Bühnenrand, barocke Kostüme in Rot und Gold. Kader Belarbi, Interpret und Mitchoreograf, beginnt seine Vorführung im Stil des codierten höfischen Tanzes, mit maß- und würdevollen, engen aber konzentrierten Bewegungen. Nach und nach wird der Tanz freier, die Beachtung der Regeln weicht der Improvisation, die Bewegungen werden weiter und ihre Sprache nähert sich der des „modernen“ Balletts an. Mit dem Beginn eines neuen Satzes (die musikalische Grundlage bildet die Suite Nummer 3 für Cello in C-Dur von Johann Sebastian Bach) wiederholt sich die Entwicklung, dies geschieht sechsmal, wobei die Stimmung in jedem Satz wechselt. Kader Belarbi gelingt hier der schwierige Übergang vom strengen barocken Stil zur Improvisation vollkommen. Er vereinigt Bühnenpräsenz, Noblesse in der Bewegung, sehr schöne Ports de Bras und vor allem perfekte Musikalität, die –mit einigen augenzwinkernden Seitenblicken zum Cellisten –eine echte Symbiose zwischen Musik und Tanz ermöglicht. Es folgen zwei Stücke der amerikanischen Choreografin Trisha Brown, das 1979 geschaffene „Glacial Decoy“ und eine Uraufführung, „O zlozony / O composite“. „Glacial Decoy“, das schon letzte Spielzeit im Palais Garnier zu sehen war, vereint fünf Tänzerinnen in leichten weißen Kostümen von Robert Rauschenberg sowie 620 Fotos von ebendiesem, die anstelle eines Bühnenbilds in ständigem Wechsel auf vier Leinwände projiziert werden. Das Stück will einen Eindruck des Fließens erwecken (so „fließt“ beispielsweise am Schluss ein Foto mit der Signatur Rauschenbergs von links nach rechts über die Leinwände), und tatsächlich ist das ganze Ballett von Fließen, Flüchtigkeit und Schwerelosigkeit geprägt. Der Takt der wechselnden Projektionen strukturiert das Ballett und ersetzt damit auch die Musik, auf die hier verzichtet wurde. Der Tanz erinnert an ein Spiel, dessen Regeln die Spielerinnen (trotz einiger Kollisionen) genau zu kennen scheinen und das zwischen kindlicher Naivität und ritualhaftem Ernst hin- und herschwankt. Trotz der angenehmen Stimmung, die das Stück schafft, ist das Bewegungsmaterial etwas repetitiv und die Aufmerksamkeit für den Tanz wird nach und nach durch die Fotos abgelenkt.

„O zlozony / O composite“ ist ein Stück für eine Tänzerin und zwei Tänzer, inspiriert von einem polnischen Gedicht, Oda do Ptaka (Ode an einen Vogel) von Czeslaw Milosz. Es basiert auf der Idee, Buchstaben in Bewegungen zu übersetzen und die ersten zehn Verse eines Gedichtes –Renascence (Renaissance) von Edna St. Vincent Millay –somit Buchstabe für Buchstabe in Tanz zu übertragen. Dafür kreiert Trisha Brown mehrere Alphabete. Gleichzeitig soll der Kontrast zwischen klassischem und postmodernem Tanz gezeigt werden (z.B. von Spitzentanz und Tanz auf halber Spitze, die sich hier ständig abwechseln). Das Bühnenbild, das einen Sternenhimmel darstellt, bestimmt die Atmosphäre, so scheinen die Tänzer sich an einem Ort zu befinden, an dem andere Gravitätsgesetze herrschen. Das Stück beginnt und endet mit einer Szene, in dem die drei Tänzer eine Konstellation bilden, die an einen durch den Raum schwebenden Satelliten erinnert, und die Gegenüberstellung von Gewicht und Schwerelosigkeit durchzieht das Stück ebenso wie die von eckigen, fast mechanischen, und fließenden Bewegungen.

Der Abend endete mit „Pas./parts“ von William Forsythe, das dieser vor fünf Jahren für die Pariser Oper schuf. Es handelt sich dabei um ein Stück im unverwechselbaren Forsythe-Stil, in dem fünfzehn Tänzer voller Dynamik die Extreme der klassischen Technik ausloten. Als Bühnenbild dient ein gelblicher Hintergrund, hinter dem man manchmal die Schatten einiger Tänzer erahnen kann. Anfangs in fast völlige Dunkelheit getaucht, füllt sich die Bühne allmählich mit Tänzern in vielfarbigen Kostümen, die sich zu immer wieder neuen Gruppen formieren, welche sich ebenso schnell wieder auflösen oder abermals neue Konstellationen bilden. Unmöglich, alle exzellenten Tänzer dieser Besetzung zu nennen, besonders herausragend waren allerdings die wunderbare Delphine Moussin, einfach perfekt im Forsythe-Stil, sowie der blitzschnelle Jérémie Bélingard, der durch ein atemberaubendes Solo und einen nicht minder brillanten Pas de Deux mit Eléonora Abbagnato glänzte. Zu erwähnen wären noch die sehr gelungenen Lichteffekte am Schluss des Stückes, als die Einzelteile zu einem Gruppenszenario verschmelzen. Grundmotiv von „Pas./parts“ ist es, ein Thema mit Variationen darzustellen, ähnlich Raymond Queneaus „Exercices de style“. Forsythe setzt sich also selbst ein Konzept, das das Stück mit seinen Vorgängern verbindet, mit der Regel der buchstabengetreuen Übersetzung eines Gedichtes in Tanz bei Trisha Brown und schließlich auch mit den strengen Codes des höfischen Tanzes. Das Grundthema des Abends ist also die Konfrontation einer Regel mit der Kreativität eines Choreografen, der diese ausfüllt.

Noch bis zum 31.12.04 im Palais Garnier in Paris, Besuchte Aufführung: 21.12.04

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