Vor zwanzig Jahren starb George Balanchine

oe
Stuttgart, 30/04/2003

Wie denn das? Zwanzig Jahre sollen bereits vergangen sein, seit George Balanchine am 30. April 1982 in New York verstorben ist? Dazwischen haben wir ein Jahrhundert verabschiedet und ein neues Jahrtausend begonnen. Doch hat sich auf der internationalen Ballettszene seither Entscheidendes verändert? Die Adorno-Erben der Frankfurter Schule werden sagen: Ja, denn vom Balanchine-Zeitalter sind wir zum Forsythe-Zeitalter übergewechselt. Aber das ist eine Meinung, die außerhalb Deutschlands wohl wenig Anklang findet. London, Paris und Kopenhagen, New York, St. Petersburg und Moskau würden ihr wohl kaum beipflichten – und ich tue es ganz sicher nicht.

In unseren Ballettkapitalen gehört Balanchine nach wie vor zu den Fixsternen des Repertoires – siehe Stuttgart, München, Berlin und Leipzig, siehe auch Zürich und Wien (nur Hamburg gibt sich distanziert, offerierte weder in der vorigen noch in der jetzigen Spielzeit auch nur einen einzigen Balanchine-Titel). Für mich persönlich kann ich nur erklären, dass die Aussicht auf ein Balanchine-Ballett im Rahmen eines Abends nach wie vor einen Red-Letter-Day signalisiert (auch wenn die Aufführung selbst naturgemäß nicht immer ihrem Anspruch gerecht wird). Das hat den Grund, dass für mich die Synthese von Musik und Choreografie das höchste Ballettglück bedeutet. Und das finde ich eben am vollkommensten in den Balanchine-Balletten realisiert – nicht in allen, aber doch in seinen Meisterwerken, gleich ob er sie nun zu Musik von Bach, Mozart, Tschaikowsky, Hindemith oder Strawinsky choreografiert hat.

Warum das so ist , ist mir jetzt wieder nachdrücklich bei der Lektüre eines neuen Buches bewusst geworden: „Stravinsky & Balanchine – A Journey of Invention“ von Charles M. Joseph, erschienen bei Yale University Press, New Haven und London, 440 Seiten, ISBN 0-300-08712-8, 30 britische Pfund. Es stellt die ideale Ergänzung zu Stephanie Jordans „Moving Music“ dar (siehe koeglerjournal vom 16.4.2002). Im Gegensatz zu Jordan, beschränkt sich Joseph auf die Zusammenarbeit von Strawinsky und Balanchine, analysiert diese und ihre Resultate allerdings derart gründlich und detailliert, wie das nie zuvor geschehen ist. Im Mittelpunkt stehen die Werke „Le chant du rossignol“, „Apollon musagète“, „Jeu de cartes“, „Agon“, „The Flood“ (ohne den Flop dieser Produktion zu beschönigen) und „Stravinsky Violin Concerto“. Es ist eine ziemlich anstrengende, aber eben auch ungemein erhellende Lektüre – mit einer Unzahl von Informationen, die bisher nicht bekannt waren (zum Beispiel über das ausgesprochen distanzierte Verhältnis sowohl Strawinskys wie auch Balanchines zu Diaghilew, aber auch über die feindselige und herablassende Haltung der amerikanischen Kritik gegenüber Kirstein und Balanchine während der Pionierjahre ihres Schul- und Kompanieaufbaus in den Vereinigten Staaten). Ich halte es für eine Pflichtlektüre für alle, die mit mir in der geglückten Verbindung von Musik und Choreografie eins der höchsten Kunstideale sehen. Entsprechend sind die beiden dem Buch vorangestellten Strawinsky- und Balanchine-Zitate die Glaubensgrundsätze meines Bekenntnisses zum Ballett und seiner Ästhetik.

Strawinsky: „Choreografie, wie ich sie sehe, muss ihre eigene Form realisieren, unabhängig von der musikalischen Form, doch gebunden an die musikalische Einheit. Ihre Konstruktion beruht darauf, welche Korrespondenz auch immer der Choreograf erfinden mag, aber sie muss nicht versuchen, die Linie und den Takt der Musik zu duplizieren. Ich sehe nicht, wie man ein Choreograph sein kann, wenn man nicht, wie Balanchine, zuerst ein Musiker ist.“ Und dazu Balanchine: „Wenn ich Strawinskys Musik choreografiere, passe ich sorgsam darauf auf, die Musik nicht zu verstecken. Gewöhnlich mischt sich die Choreografie zu sehr in die Musik ein. Wenn auf der Bühne zu viel passiert, kann man die Musik nicht hören. Irgendwie verdunkelt das Herumgewusele die Musik. Ich tue immer das Gegenteil. Ich zähme sozusagen meine Tänze. Sie sind immer weniger als die Musik. Wie in der modernen Architektur sollte man eher weniger als mehr tun.“

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