In den Winden im Nichts

oe
Zürich, 07/09/2003

Mit einer choreografischen Kalorienbombe hat das Zürcher Ballett im Opernhaus die Spielzeit 2003/04 eröffnet. Ganze 75 Minuten dauert die pausenlose Vorstellung – eine einzige Tour de force für alle Beteiligten: die Tänzer, den Solocellisten und nicht zuletzt das Publikum. Äußerste Konzentration ist gefragt – wie in den drei Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach – Nummer 2, 3 und 6 – im Anschluss an die schon zuvor unter dem Titel „und mied den Wind“ gegebenen Nummern 1, 4 und 5. War die erste Trias den Elementen Erde, Wasser und Feuer gewidmet, so geht es diesmal unter dem Titel „In den Winden im Nichts“ eher luftig zu.

An Zarah Leanders „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“ ist gleichwohl nicht zu denken. Der Wind, von dem sich Spoerli hier hat inspirieren lassen, ist eher der wild brausende Boreas aus dem hohen Norden. Interessant ist übrigens, dass Spoerlis Wind-Ballett – alles andere als ein Windei – just in diesem Moment zur Uraufführung kommt, da die politische Debatte um die Windenergie bei uns auf dem Höhepunkt angelangt ist. Vielleicht ja als Vorbote einer Inszenierung von Rameaus Boreas-Oper, die Edouard Lock gerade an der Pariser Opéra herausgebracht hat? Von Claudius Herrmann, dem Solocellisten des Zürcher Opernorchesters mit unermüdlicher Energie gespielt – und so differenziert, dass man immer wieder den Eindruck hat, er unterhält sich auf seinem Instrument mit sich selbst –, von Arman Grigoryan gleichsam als Zeremonienmeister introduziert (und beschlossen), reiht sich vor Sergio Caveros riesigem Kreis als einzigem Dekor (es ist der schon im früheren Stück benutzte Feuerkreis, aber jetzt in die Vertikale gekippt und statt Feuer nunmehr zischenden Dampf versprühend) ein Tanz an den anderen: Prelude, Allemande, Courante, Sarabande und Gigue – lediglich der Gigue vorangestellt je zwei Menuette, Bourrees und Gavotten. Beleuchtung (Martin Gebhardt) und Kostüme (Entwurf Spoerli – schulterfreie Bodies für die Damen, Badehosen, übergehend in Tops für die Herren) sind farblich auf einander abgestimmt – lediglich die Männer treten einmal in Röcken auf – und erinnern dann irgendwie an van Manens „Große Fuge“ (wie man überhaupt gelegentlich an van Manen denkt).

Keinerlei historische Reminiszenzen an die zugrundeliegenden Gesellschaftstänze. Eher kleine Formen, viele Duos und Trios, kaum Soli, ein paar fulminante Jungen-Ensembles, auch einmal eine Girl-Reihe, die in all diese Ordnung eine gezielte zappelige Unruhe bringt, lediglich am Schluss – vor dem einsamen Postludium von Grigoryan – einmal die ganze stattliche Truppe, inklusive der Junioren. Der Abstraktionsgrad der Choreografie ist sehr hoch, weniger sportiv als in der früheren Suiten-Trias, eher architektonisch, mit kunstvoll gebauten Dreiergruppen. Auffallend wenig Bodenfiguren, ab und zu mal ein humoristisches Aperçu, Anekdotisches ist weitgehend ausgespart, manchmal wird der Fluss der Choreografie durch einen Moment des Innehaltens unterbrochen. Auffallend häufig sieht man korrespondierende signalartige Armfigurationen – gelegentlich auch flatternde Handensembles. An einer direkten Transformation der Musik in Choreografie ist Spoerli nicht gelegen – eher verhält er sich korrespondierend zur Musik, doch die innere Stimmigkeit zwischen Musik und Choreografie ist offensichtlich.

Die Kompanie mit all ihren Solisten – prominent eingesetzt sind Ana Quaresma und Dirk Segers, Lara Radda und Grigoryan, Karine Seneca und Jozef Varga, Pilar Nevado und Akos Sebastyen, Yen Han und Iker Murillo – tanzt in Topform. Dieses ist ein junger Bach, den die Tänzer total verinnerlicht haben – eine junge Truppe mit guten Manieren, gut anzusehen, ausgesprochen kommunikativ ihren Enthusiasmus projizierend. Ein glanzvoller Spielzeitauftakt! Aber nun hat das Zürcher Ballett sein Bach-Soll wirklich voll erfüllt, und es ist an der Zeit, dass sich Spoerli einem anderen Komponisten zuwendet – es muss ja nicht Mozart oder Tschaikowsky sein! Wie wär‘s denn zur Abwechslung mal mit Scott Joplin und einem Ragtime-Ballett?

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