4. „Prinzessin Pirlipat“ und „Nussknacker“

Mariinsky-Festival 2003

München, 26/07/2003

Der weitere Verlauf war durch den Ausfall des geplanten Hauptevents gekennzeichnet, denn eine weitere Rekonstruktion, die einer traditionellen „Undine“ durch Pierre Lacotte, wurde nicht fertig. So war die einzige Premiere des Festivals am 27. Februar 2003 die Ergänzung des „Nussknackers“ von Schemjakin durch „Prinzessin Pirlipat“ oder „Der bestrafte Edelmut.“

Die der Nussknacker-Handlung vorangehende Episode, die Petipa und Tschaikowsky in ihrer Zusammenarbeit unberücksichtigt gelassen hatten, bedurfte zunächst einer Musik, die sie als Einlagen-tauglich für das „Nussknacker“-Ballett erscheinen ließ. Sie wurde von Sergej Slominsky komponiert, der sich bei einem Durchqueren aller Genres als fähig erwies, jeder Vorgabe Michail Schemjakins zu dienen, der auch hier für das Libretto sorgte. Dass dieser Abend als einziger von Maestro Valery Gergiev dirigiert wurde, wirft ein Licht darauf, dass auch diese Ballett-unspezifische Produktion wohl aufgrund der Erfahrungen Gergievs in Amerika so aufwendig produziert wurde. Leider geriet sie nicht wie bei E. T. A. Hoffmann zur humorvoll-leichten Erklärung des feindlichen Verhältnisses von Nussknacker und Mäusekönig und Maries Affinität zu jenem, sondern zum kräftigen, manchmal schwülstigen Rahmen.

Denn als bildender Künstler hat Schemjakin auch hier für eine überbordende Bilderfülle gesorgt. In deren Präsentation sind auch auffallend geschickte Einfälle, wie man Handlungs-Umschwünge effektvoll in Szene setzt, und die Musik lässt Schemjakin dabei nie im Stich. Man kann sogar Gefallen daran finden, wenn man sich in einem Musical wähnt. Aber muss das alles von den Künstlern des Mariinsky-Theaters getanzt werden und dessen Ressourcen verschlingen? Die Choreografie von Kirill Simonow jedenfalls ist konventionell und dünn, konnte es vielleicht nicht anders sein unter dem Diktat Schemjakins. Und daran nahmen die russischen Kritiker, obwohl sich die meisten Zuschauer glänzend unterhalten fühlten, zu Recht Anstoß.

Als Beispiel diene Maria Ratanowa, die das Fehlen zeitgemäßer russischer Choreografie mit beißender Ironie als Manko des Festivals geißelte: „Die Welturaufführung von ,Prinzessin Pirlipat' kann man wohl nicht dazu zählen! Pirlipat schält sich aus einem Fabergé-Ei, danach werden die armen Ratten herdenweise hingerichtet, weil sie die königliche Wurst gefressen und dann einen spanischen Tanz in den Käse-Katakomben getanzt haben. Der Genozid des Rattenvolks führt zur Revolte ihrer herausragenden Vertreter und dem Entschluss zur Rache an Menschen und Katzen (...) Wenn in diesem ganzen Blödsinn mit der verzauberten Prinzessin Pirlipat in ihrer grundhässlichen Maske, die zu Synthesizer-Musik tanzt, wenigstens eine vereinigende Grundidee gewesen wäre, hätte sich der Aufwand vielleicht gelohnt. Aber es herrscht konzeptionelle und choreografische Atrophie, wie die vielen armseligen Divertissements anstelle einer durchdachten Tanzhandlung verraten.

Wenn dies die neue Politik des Mariinsky-Balletts auf dem Gebiet zeitgenössischen Tanzes ist, kann man die Waganowa-Akademie in nicht allzu ferner Zukunft schließen.“ – Immerhin konnte man beim anschließenden „Nussknacker“ den Eindruck haben, dass im 2. Akt, verglichen mit dem Vorjahr (vgl. Kritik vom 11.3.2002), auf der Bühne für den Tanz mehr Platz geschaffen war, und Tschaikowskys Musik klang, dirigiert von Gergiev, kraftvoll, transparent und so, als ob man sie zum ersten Mal wirklich hörte.

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