1. Die Geschichte des Mariinsky-Balletts

Mariinsky-Festival 2003

München, 26/07/2003

Im Mai 2003 wurde der 300. Geburtstags von St. Petersburg mit politischen Besuchen und zahlreichen Fernsehabenden (allein vier Themenabende auf ARTE) ins internationale Bewusstsein gehoben, und die in diesem Jahr weit ausgedehnten Feierlichkeiten der Weißen Nächte reichen noch bis in den August hinein. Dieses Jubiläum soll unsere Blicke auf St. Petersburgs kulturelles Zentrum, das Mariinsky-Theater, lenken. Die wichtigsten russischen Komponisten arbeiteten dort: Glinka, Mussorgsky, Borodin, Tschaikowsky, Glasunow, Prokofjew und Schostakowitsch. Es ist zugleich das „Haus von Marius Petipa“, des Choreografen also, der gemeinsam mit Lew Iwanow den Bewegungskanon des akademischen Tanzes vervollkommnet hat. In den letzten vier Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts schuf er eine solche Fülle von Meisterwerken -– allein in der Zusammenarbeit mit Tschaikowsky waren es „Dornröschen“, „Nussknacker“ und „Schwanensee“ –, dass die Kompanie des Mariinsky-Theaters zur Heimat des klassischen Balletts wurde.

Die Geschichte dieses Theaters reicht allerdings noch weiter zurück: Nachdem 1738 in St. Petersburg die erste Ballettschule in Russland, die ursprünglich für die Kinder des Zarenpersonals bestimmt war, ihre Arbeit aufgenommen hatte, gründete Katharina die Große knapp zwei Jahrzehnte später ein Großes (Bolschoi) Theater für das erste russische Opern- und Ballettensemble. Dieses wurde bald die führende Bühne im Land, auf der westliche Choreografen wie Charles-Louis Didelot, Filippo Taglioni und Arthur Saint-Léon die Kunst des Balletts in Russland heimisch machten. Als zweite Spielstätte diente damals ein gegenüber gelegener Zirkus, der 1860 durch Brand zerstört und dann zu Ehren der Frau des Zaren Alexander II. als Marien-Theater wiedereröffnet wurde. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden die Aufführungen des Balletts dorthin verlegt.

Nach der Ära des französischen Choreografen Petipa, der von 1847 bis 1910 in St. Petersburg lebte und mit „Le Corsaire“, „Don Quixote“, „La Bayadère“ und „Raymonda“ weitere Werke schuf, die das russische Ballett an die Weltspitze brachten und noch heute die Klassiker des internationalen Ballettrepertoires sind, gab das Mariinsky-Theater einen weiteren internationalen Impuls: Enrico Cecchetti, Tänzer an der Mailänder Scala und später herausragender Virtuose in St. Petersburg, unterrichtete ab 1882 an der kaiserlichen Ballettschule und sorgte dafür, dass zunehmend größerer Wert auf technisches Können gelegt wurde. Seine bedeutendsten Schüler waren Anna Pawlowa, Michail Fokin und Waslaw Nijinsky.

Währenddessen begann man in Westeuropa, das klassische Ballett als eine obsolete Kunstform anzusehen. In Russland empfanden kreative Tänzer selbst die neuesten Ballette als ständige Wiederkehr der alten Art. Fokin, der 1898 als 18jähriger Solist in das Kaiserliche Ballett eintrat, schrieb frustriert: „Wir, die männlichen Tänzer, hatten weder das Erscheinungsbild noch die Umgangsformen, die unsere Rollen vorschrieben (...) Keiner unserer Tänze bildete den Teil einer Rolle oder drückte einen bestimmten Charakter aus; sie waren eigentlich nicht mehr als eine Demonstration von Agilität und Virtuosität (...) Wenn ich eine Mimenrolle spielte, repräsentierte ich das authentische Bild jener Zeit, tanzte ich aber einen klassischen Part, dann war ich ein führender Tänzer - außerhalb von Raum und Zeit, mit onduliertem Haar, rosa geschminkten Wangen und Ballett-Trikot.“ Diese in zaristischen Ballettkonventionen erstarrten Normen versuchte Fokin aufzulösen.

Es kam das Jahr 1909 und mit ihm die erste „Saisons Russes“ in Paris. Der als Erneuerer der Kunst bereits berühmte Sergej Diaghilew hatte die besten russischen Tänzer und Choreografen um sich gesammelt, unter ihnen Nijinsky und die Pawlowa, Fokin als Choreograf, Igor Strawinsky als Komponist und Léon Bakst als Bühnenbildner. Die Präsentation von Balletten wie „Scheherezade“, „Les Sylphides“ oder „Der Feuervogel“ durch Diaghilew war der Anfang einer erneuten Begeisterung für das Russische Ballett in Westeuropa. Auch die „Polowetzer Tänze“ aus Borodins „Fürst Igor“, die mit der überbordenden Wucht des Männer-Corps etwas genuin Russisches zeigten, muss man in diesem Zusammenhang nennen.

Zwei Jahre später folgten „Narziss“ und „Petruschka“, ehe Nijinsky, dessen Genialität Fokin in diesen Balletten zur Entfaltung brachte, mit „Nachmittag eines Faun“ selbst den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung setzte, die den männlichen Tänzer aus dem Schatten heraustreten ließ, den die kometenhaft aufgestiegene Ballerina des 19. Jahrhunderts auf ihn warf. Der letzte Chefchoreograf des Diaghilew-Balletts, der nach dem Tod des großen Impresarios seine künstlerische Freiheit gewann, steuerte allerdings wieder dagegen: George Balanchine, der in den 30er Jahren in Amerika die erste klassische Schule und die erste klassische Kompanie gründete -– das heutige New York City Ballet. Später gehörten Rudolf Nurejew und Michail Baryschnikow zu den Premiers Danseurs, die in Balletten wie „La Bayadère“, „Dornröschen“ und „Schwanensee“ den Anteil des Tanzes vergrößerten, um das bei Petipa noch angelegte Ungleichgewicht zwischen männlichem und weiblichem Tanz auszugleichen.

Am 1. Dezember 1934 wurde mit dem Einsetzen der politischen Säuberungswellen Sergej Mironowitsch Kirov, der Erste Sekretär der Partei in Leningrad, ermordet. Gleichwohl bekam das Mariinsky-Theater im Jahr darauf den Namen von Stalins ehemaligem Mitarbeiter. Während der sowjetischen Ära standen im Kirov-Ballett beispielsweise „Die Fontäne von Bachtschissarai“, „Roter Mohn“ und „Spartakus“ von Leonid Jakobson oder „Die Steinerne Blume“ und „Die Legende von der Liebe“ von Juri Grigorowitsch auf dem Programm, teilweise vom Moskauer Bolschoi-Ballett übernommen und allesamt von keinem so hohen Repertoire-Wert wie die früheren Stücke.

Und doch tanzte man wieder an die Weltspitze! Denn seit 1934 leitete Agrippina Waganowa, seit 1921 Pädagogin am Petrograder Choreografischen Technikum (der ehemaligen Mariinsky-Schule), die 1954 nach ihr benannte Leningrader Ballettakademie. Waganowa entwickelte ein heute auch international maßgebliches Ausbildungssystem für klassisches Ballett. Die 60er und 70er Jahre, von Jochen Schmidt rückblickend als „ein Goldenes Zeitalter des klassischen Tanzes“ bezeichnet (FAZ vom 20.07.98), sahen das Kirov-Ballett als alles überstrahlenden Maßstab für Stilreinheit und tänzerische Virtuosität. Dank einer Fülle von Ausnahmetänzern wie Kolpakowa, Sisowa, Komlewa, Makarowa, Baryschnikow, Solowiew, Panow und Wikulow konnte es sogar die Flucht eines Rudolf Nurejew (1961) mühelos verschmerzen. Als auch Makarowa (1970) und Baryschnikow (1974) bei Gastspielen im Westen blieben und Panow (1972) in Ungnade fiel, bekam der Lack erste Kratzer. Als sich beim nahenden Zusammenbruch der Sowjetunion die Schinderei nicht mehr zu lohnen schien, geriet das Kirov-Ballett in eine ernste Krise: Die Motivation stimmte nicht mehr, die Vorstellungen wurden schlechter, und von einem kreativen Beitrag zum Tanz war seit Jahrzehnten nichts zu sehen. Abermals verließen viele Tänzer Leningrad.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist das Mariinsky-Theater, wie es seit 1992 wieder heißt, zurück auf dem Weg zur Weltspitze. Musikalisch ist das dem charismatischen Dirigenten Valery Gergiev zu verdanken, der in Europa und Amerika der wichtigste Anwalt und Protagonist der russischen Opern- und Orchesterliteratur ist, gleichzeitig als Intendant des Mariinsky-Theaters westliche Opern von Bellini bis Wagner nach St. Petersburg holte und das Repertoire auch in Bezug auf russische Komponisten erweiterte.

Einvernehmlich mit Maestro Gergiev versucht Makhar Vaziev, seit 1996 verantwortlicher Leiter des Balletts, dessen Anschluss an die große Tradition zu schaffen. Er hat sich dazu erneut der Mitarbeit der besten Pädagogen der Waganowa-Akademie versichert und versucht gleichzeitig, seiner Kompanie ein neues künstlerisches Bewusstsein zu vermitteln (vgl. das Interview unter: Kritiken, Themen, 18.03.2002). Unter seiner Direktion wurde das klassische Repertoire weitergeführt und um spektakuläre Rekonstruktionen seiner Originale bereichert. Das bereits unter Oleg Winogradow seit Ende der 80er Jahre getanzte Balanchine-Repertoire vergrößerte er um „Serenade“, „Jewels“ und den „Verlorenen Sohn“ – eine Linie, die ausgebaut werden soll. Vaziev gab jungen russischen Choreografen eine Chance und gewann mit John Neumeier –- unseres Wissens erstmals seit Petipa -– wieder einen westlichen Choreografen dafür, in St. Petersburg ein neues Werk zu schaffen.

Diese großen Linien der Geschichte lassen erkennen: Die Ballettkompanie des Mariinsky-Theaters ist seit jeher eines der großen klassischen Ensembles. Keine andere hat die Ballettgeschichte so geprägt, keine andere ist so maßgeblich für die Arbeit der Tänzer in den großen Kompanien der Welt, und keine andere prägt die internationalen Ensembles durch so viele Tänzerpersönlichkeiten. Die aktuelle Situation ist folgende: Um die von Makhar Vaziev konzipierte Bereitschaft zur neuen Offenheit etwa durch die Zusammenarbeit mit John Neumeier, William Forsythe und Jirí Kylián zu realisieren, ist mehr Geld nötig, als der staatliche Etat und die Einnahmen der häufigen Tourneen hergeben. Wichtige Hilfe dazu kommt u. a. aus Deutschland. Deshalb wird am Ende dieser Hommage an das St. Petersburger Ballett auch die im Herbst 2000 gegründete „Stiftung der Freunde des Mariinsky-Theaters“ vorgestellt.

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