Sehr erfolgreich auf neuen Wegen

Premiere „Tanzsichten“ beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 10/05/2002

Die jüngste Premiere des Stuttgarter Balletts mit drei Uraufführungen im Schauspielhaus endet mit einem sensationellen Werk. Die Nürnberger Ballettdirektorin Daniela Kurz, endlich wieder an den Ort ihrer ersten Erfolge zurückgekehrt, hat in „Schere Stein Papier“ eine Art tänzerische Ringparabel geschaffen, mit der sie einen immens wichtigen, aufklärenden Beitrag zu unserem Verständnis der aktuellen Konflikte, etwa auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Tschetschenien liefert. Obwohl von ganz anderer Art, dürfte dieses Stück für unsere Zeit so brisant sein, wie einst „Der grüne Tisch“ von Kurt Jooss für die Menschen der Dreißiger Jahre.

Kurz lässt Robert Conn, Eric Gauthier und Jason Reilly in Fräcken und weiten, weißen Röcken über weißen Hosen auf der bis auf halbe Höhe hochgefahrenen Bühne einen unerhört dynamischen, von mächtigen Schwüngen bestimmten Kampf ausfechten, der zunächst relativ gewaltfrei anmutet. Unmerklich beginnt sich die Bühne auf ihr normales Niveau zu senken, der Kampf gerät ins direkte Blickfeld der Zuschauer. Die Tänzer entledigen sich ihrer Fräcke und beginnen an Pulten mit vehementen, bezwingend dramatischen Bewegungen ihre Standpunkte darzulegen. Aber wir kennen diese Menschen nicht und wissen nicht, welche Gründe sie bewegen. Vermeintlich Gute und Böse sind plötzlich nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Ohne vorgefasste Meinungen, ohne weitere Informationen, über deren wirklichen Wert wir uns im Klaren sind, können wir nicht Partei nehmen.

Als schließlich einer der drei liquidiert wird und bald ein anderer an seine Stelle tritt, versinkt die Bühne langsam in der Tiefe und verschwindet damit, während der Konflikt weitergeführt wird, aus unserem Interesse. Ganz anders als in ihren Nürnberger Arbeiten ist Daniela Kurz in dieser sehr rigide und ausgesprochen kraftvoll. Sie erfüllt sogar den allgemeinen Stuttgarter Anspruch auf eine attraktive Ästhetik, ohne dass sie ihr spezifisches Tanzidiom verleugnen würde. Es zeigt sich vielmehr in ihrem neuen Stück höchst einfallsreich und geradezu beflügelt von den technischen Fähigkeiten ihrer bewundernswert präsenten und intensiv agierenden Interpreten, denen sie mit Kompositionen von Elena Kats-Chernin eine aufwühlende und antreibende Klangfolie geboten hat. Ein großer Wurf, für den Kurz und ihre Tänzer zu Recht bejubelt wurden.

Auch das zweite Werk des Abends ist von hoher Qualität. Der Stuttgarter Solist Douglas Lee behandelt in „Cindys Gift“ das Schicksal eines jungen Mädchens, das sich von anderen Kindern irgendwie unterscheidet, etwas „Besonderes“ ist. Er wurde zu ihm durch die Erzählung einer Mutter inspiriert, deren Stimme aus dem Off ertönt. Bridget Breiner ist dieses Mädchen, das zu den von Roderik Vanderstraeten arrangierten Six Melodies for Violin and Keyboard von John Cage abseits von drei Paaren im Dunkel seiner eigenen Welt lebt und uns nur durch seine Körpersprache aus seinem Inneren berichtet, das nach mehr Freiheit dürstet – ein fragiles Geschöpf, von einer Sehnsucht erfüllt, die allen verschlossen bleibt.

Eine zarte, ungewisse Atmosphäre, wie ein unerlaubter Blick in eine verletzte Seele, dem Bridget Breiner mit ihren langen, sich zaghaft und schmerzvoll verkrümmt in die Welt tastenden Gliedmaßen eine berührende und rührende Gestalt gibt. Douglas Lee rechtfertigt mit dieser ungewöhnlichen Choreografie aufs Schönste jene Hoffnungen, die er mit seinen beiden ersten Werken für das Stuttgarter Ballett geweckt hat.

Das hatte man auch von der einleitenden Uraufführung „Somewhere Between Remembering and Forgetting“ der neuen Saarbrücker Ballettdirektorin Marguerite Donlon erwartet, die sich mit ihren Werken bisher allerdings eher in heiteren Gefilden bewegt hat. Dieses nun, dem kürzlich durch Freitod aus dem Leben geschiedenen Szene-Anwalt Jörg Bofinger gewidmet, handelt von der vagen Realität des sich Erinnerns, in der sich Katja Wünsche wohl in der Gestalt von Yseult Lendvai ihrer Vergangenheit zu vergewissern sucht. In mystischem Licht (Lucy Carter), zwischen sich nach hinten verengenden, weißen Wänden (Donlon) geistern die beiden Damen, Eric Gauthier, Thomas Lempertz, Jorge Nozal und Javier Amo Gonzales zu Musik von Philip Glass und eigens geschaffenen Kompositionen von Claas Willeke schlingernd, gleitend und gestikulierend durch eine nebulöse Welt, die jener gleicht, die wir zuweilen unmittelbar vor dem Einschlafen erleben – noch nicht Traum, aber schon nicht mehr Wirklichkeit.

Brillant getanzt, vor allem Katja Wünsche entpuppt sich als eine wundervoll entrückte Interpretin nebulöser Gefühle, kann das handwerklich raffinierte Stück bei aller Originalität nicht wirklich nachhaltig beeindrucken. Vielmehr ist es, wie sein Titel es verspricht, bereits am Ende des Abends irgendwo zwischen Erinnern und Vergessen gelandet. Das Stuttgarter Ballett kann mit dem Ergebnis dieser Premiere unter dem Titel „Tanzsichten“ hoch zufrieden sein. Nur selten hat es sich so erfolgreich auf neue Wege begeben. Und es wäre überhaupt nicht nötig gewesen, die Pausen wieder einmal derart in die Länge zu ziehen, dass sie die Dauer des eigentlichen Tanzes übertreffen.

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