Die Kameliendame

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Stuttgart, 09/11/2001

Die wievielte Stuttgarter Vorstellung der „Kameliendame“ mag es wohl sein? Die Stimmung im ausverkauften Haus wie bei einer Premiere – mit lauter Blumensträußen am Schluss. Kein Wunder, denn heute Abend tanzt – Malakhov samt Lendvai und die anderen in allen Ehren – Stuttgarts Traumpaar: Sue Jin Kang und Robert Tewsley. Ganz anders als die beiden Rollenkreateure vor nun bald einem Vierteljahrhundert: Marcia Haydée und Egon Madsen. Erinnerte Haydée in ihren Auftritten im zweiten Teil als Grande Dame an Greta Garbo, so denkt man bei Jin Kang (ist Jin eigentlich ein Vorname oder Teil ihres Familiennamens?), die so ungemein zerbrechlich wirkt, fast durchsichtig und zart, eher an Verdis Violetta – und ist dann in ihrer Hingabe doch von einer geradezu und wörtlich verzehrenden Leidenschaftlichkeit.

Als Paar suggerieren die beiden noch eine weitere legendäre literarisch-biografische Partnerschaft: George Sand und Frédéric Chopin – obgleich sie äußerlich nicht die mindeste Ähnlichkeit mit der so betont männlich auftretenden Schlossherrin von Nohant hat. Das macht sicher auch die Musik. Nie zuvor ist mir die Stimmigkeit der Musikwahl John Neumeiers so bewusst geworden wie an diesem Abend, der so brillant musiziert wurde – erst nur mit David Diamond am Flügel (der am Abend zuvor sich bereits als ein so insistierender Martellato-Piano-Perkussionist in John Cage/van Manens „Twilight“ bewährt hatte) – dann komplettiert durch Glenn Prince und James Tuggle mit dem Staatsorchester.

Man muss das Ballett öfter sehen, um die vollkommene Synästhesie von Stoff, Dramaturgie, Musik und Choreografie richtig zu würdigen – die man nicht zuletzt der Dramaturgie von Angela Dauber zugutehalten muss (deren Name auf dem Besetzungszettel überhaupt nicht erwähnt wird – obgleich die Dramaturgie hier eine so viel wichtigere Rolle spielt als in den verquasten Spuck'schen „Songs“). Die beiden Figuren scheinen an diesem Abend direkt aus der Musik geboren. Tewsley hat inzwischen das Format eines Weltklassetänzers. Der Entwicklungsprozess, den er durchläuft, ist geradezu bestürzend: von einem traumverlorenen, ein wenig ungelenken und tölpelhaftem Jüngling zu einem Mann, der nur von einer Leidenschaft besessen ist und sie bis zur Selbstzerstörung auslebt. Er beginnt als Dumas jr. und endet als Dostojewsky. Jin Kang und Tewsley tanzen, dass man wieder einmal spürt, welch eine Magie der Tanz zu bewirken imstande ist. Ein großer Abend! Tanztheater, das einen unwiderstehlich in seinen dramatischen Sog reißt.

Mit Bridget Breiner und Douglas Lee gewinnen auch die Manon-Lescaut-Sequenzen eine geradezu lemurenhafte Dringlichkeit: Wie Geisterwesen brechen sie in die Realität der Marguerite Gautier ein und ziehen sie zu sich herüber. Schließlich all die anderen in ihren kleiner dimensionierten, gleichwohl dramatisch unverzichtbaren Rollen, die das fabulös konstruierte dramaturgische Räderwerk dieses Balletts in Gang halten: der äußerlich so strenge und doch so mitfühlende Robert Conn als Duval père, Angelika Bullfinski als betuliche Kammerfrau, Lior Lev als nobler Herzog. Thomas Lempertz (an allen diesen Abenden in so ganz verschiedenen Rollen hundertprozentig engagiert) als Graf, Alicia Amatriain als Olympia, Roberta Fernandes als Prudence, Ivan Gil Ortega als Gaston Rieux: welch ein Aufgebot an Tänzerpersönlichkeiten.


Was für ein Ballett! Angesichts und als Erlebnisopfer einer solchen Vorstellung bekenne ich mich gern als einen hoffnungslos unzeitgemäßen Verteidiger des abendfüllenden Handlungsballetts.

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