Das Marientheater-Ballett mit dem „Nussknacker 2001“

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Baden-Baden, 25/12/2001

Die Berichte über die St. Petersburger Premiere des neuen „Nussknackers“ hatten skeptisch gestimmt, aber die Baden-Badener Vorstellung am ersten Weihnachtsfeiertag, die erste Präsentation der Produktion außerhalb Russlands, übertraf die schlimmsten Erwartungen. Ein Albtraum des Ungeschmacks, des Infantilismus und der Unmusikalität, verursacht vom Ausstattungs-Inszenator, dem 57jährigen, vor zwanzig Jahren in die USA emigrierten Exilrussen Michail Schemiakin, und dem total unerfahrenen Jungchoreografen Kirill Simonow (eingesprungen für den ursprünglich vorgesehenen Alexei Ratmansky, der, konfrontiert mit dem eisernen Willen von Valery Gergiev, dem allmächtigen Leiter des St. Petersburger Marientheaters, und dem keinen Widerspruch duldenden, von keinerlei Theater-, geschweige denn Balletterfahrung angekränkelten Ausstatter Schemiakin, die Flucht nach Dänemark antrat).

Da vermochte die rasante, gleichwohl äußerst delikate Interpretation der meisterlichen Partitur Tschaikowskys durch das aus St. Petersburg mitgereiste Orchester unter der Leitung von Michail Agrest und die selbstverleugnende Ausführung dieses haarsträubenden Klassisch-Modern-Pop-Schrittmixes durch die hinreißenden Tänzer nichts auszurichten: Schweinsrüssel in Marzipan ist noch der freundlichste Titel, der einem zu dieser Geschmacksentgleisung einfällt.

Schemiakin, der in den USA und in Russland Kultstatus genießt und vor allem als Bildhauer und Zeichner grotesker, vollgefressener, aus allen Nähten platzender und mit Rüsseln versehenen Tierfiguren bekannt geworden ist, wollte angeblich zurück zum originalen E.T.A. Hoffmann, faselt etwas vom Aufstand gegen das satte, selbstgenügsame Bürgertum, in dessen Abgründen Ratten und anderes Ungeziefer nisten, hat sich seine Inspirationen bei Gogol, Hieronymus Bosch, Callot, Grandville und Dali geholt und seine Fantasien in eine süß-saure fettige Farbbrühe getunkt.

Herausgekommen ist dabei eine Orgie reinsten Kitsches, die nicht nur die fein ziselierte Partitur Tschaikowskys vergewaltigt, sondern in der auch die Geschichte von Mascha, der ungeliebten Tochter der geheimrätlichen Familie und dem ärmlichen Nussknacker, der sich dann später als Prinz herausstellt, völlig verloren geht. Die üblichen Mäuse sind hier in einen ganzen Rattenstaat verwandelt, die Kämpfe, die zwischen unkenntlich kostümierten Uniformträgern ausgefochten werden, gipfeln in einem Fight zwischen dem Nussknacker und einer Revuefliege und das Konfitürenburg-Fantasy Land entpuppt sich als gigantische Marzipantorte aus den Innereien von Insekten und Tierkadavern mit riesigen Rüsseln.

So ungeschlacht wie diese dekorative Schlachtplatte aus der Abdeckerei ist die zusammengestoppelte Choreografie des unerfahrenen Simonow (der von früheren Gastspielen her als virtuoser Narr in „Schwanensee“ in Erinnerung ist), basierend auf der klassisch-akademischen Tradition mit den üblichen, inzwischen unerträglichen pantomimischen Groteskereien und zahlreichen Revueanleihen, die die ganze Produktion als Folies de Saint Petersbourg erscheinen lassen.

Da können sich die Tänzer noch so selbstverleugnend in ihre Partien stürzen, retten können sie diese, allem Marientheater-Nimbus Hohn sprechende Monstrosität nicht – auch nicht die liebliche, wunderbar zarte und graziöse, technisch souveräne Natalia Sologub (der Nussknacker-Prinz hat sowieso kaum etwas zu tanzen, womit Andrei Merkurlew sein Talent beweisen könnte) und auch nicht der wie ein buckliger Nosferatu herumwieselnde Pantomime Anton Adassinsky als Drosselmeier.

Die von Alberto Vilar großzügig bezuschusste neue „Nussknacker“-Produktion dürfte sich als die kostspieligste Ballett-Fehlinvestition des Jahres 2001 erweisen. Für mich zumindest ist unvorstellbar, dass sie, wie ursprünglich geplant, auf eine Tournee rund um den Globus gehen und in den großen Opernhäusern der Welt gastieren wird.

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