Jochen Schmidt: „Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band“

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Stuttgart, 24/10/2002

Ein kompakter Band, 448 Seiten stark, mit zahlreichen Fotos der ausgewählten 101 Choreografen – voller Skrupel und Selbstzweifel gegenüber den ausgelassenen: das ist Jochen Schmidts „Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band mit 101 Choreographenporträts“ (Henschel, Berlin 2002, Euro 49.80). Auf die Einleitung und Begründung der Auswahlkriterien folgen 23 Großkapitel zwischen „Die Suche nach dem Neuen im Alten“ (Fuller, Duncan, St. Denis, Wiesenthal) und „Stop Dance“ (Stuart, Bel), mit jeweils einer kompakten, meist glänzenden Übersicht und im Durchschnitt vier bis fünf Einzelporträts.

Da sind ein paar gewaltsame Zuordnungen unvermeidlich, aber allgemein durchaus akzeptabel – und für sie hat sich Schmidt eine Menge einfallen lassen. Zu den Kuriosa rechne ich „Die Kleinmeister der neuen Klassik“ (Lifar, de Mille, Cranko, MacMillan und Erich Walter) und „Eigenbrötler und Sonderlinge“ (Béjart, van Dantzig und Jochen Ulrich) – auch „Vom anderen Ende der Welt – Zwischen Madras und Melbourne“ (Uday Shankar, Chandralekha, Kusumo, Ea Sola, Hwi-min und Tankard).

Die einzelnen Porträts sind gut geschrieben, sehr informativ und mit knapp gehaltenen Werkverzeichnissen versehen. Glanzlichter sind die Porträts von Balanchine, van Manen, Kylián, Bausch und Hwai-min. Gewisse Bewertungen dürften kontrovers diskutiert werden: Cranko, Neumeier, Vámos, Wherlock. Ich hätte natürlich eine etwas andere Einteilung vorgenommen. Mir fehlt ein Kapitel „Der deutsche Sonderweg“ (in dem dann auch die völlig ignorierten Tatjana Gsovsky und Yvonne Georgi Aufnahme gefunden hätten).

Auch hätte ich mir ein Kapitel „Tanz in der DDR“ gewünscht (immerhin ist außer Palucca auch Tom Schilling vertreten, dessen Tanztheater-Definition als „Etikettenschwindel“ zu desavouieren ich denn doch für zu westlich-borniert halte). Ebenfalls vermisse in ich ein Kapitel über die Renaissance des Folkloretanzes im Gefolge von Moissejew. Und außer Martin Schläpfer hätte ich von den Youngsters gern auch Daniela Kurz und Christian Spuck vertreten gesehen – aber das mag mit meiner Stuttgarter Lokalperspektive zusammenhängen).

Schließlich wäre zu überlegen gewesen, ob es nicht auch ein Kapitel über die Restauration der Klassiker hätte geben müssen (Lacotte, Makarova, Nurejew bis zu Millicent Hodson und Kenneth Archer). Ungern sehe ich auch David Bintley, Mark Morris und Jean-Christophe Maillot übergangen. Das Buch ist zweifellos von einer sehr elitären Anspruchshöhe geschrieben: Das erklärt auch Schmidts Neigung, die Karriere überraschend vieler Choreografen (auch Cranko, MacMillan, Nikolais, Tetley, Ailey, Tharp, Petit, Dean – Neumeier sowieso) als Niedergang zu interpretieren.

Leider ist den Lektoren der Vorwurf zu machen, dass sie überaus schludrig redigiert und fahrlässig korrigiert haben. Ganz und gar unmöglich sind die Dutzenden von Flüchtigkeitsfehlern (die ich keineswegs Schmidt anlasten möchte) – ausgelassene Buchstaben, unterschiedliche Akzente, Wortungetüme wie wiederhallen, narzisstisch, Finals, Palestinenser, abstraft, ausklammert, Galeonsfigur... und ... und ... und ...

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