„Bolero“ von Maurice Béjart. Tanz: Friedemann Vogel

„Bolero“ von Maurice Béjart. Tanz: Friedemann Vogel

Nachdenkliches und Brillantes

Das Stuttgarter Ballett verabschiedet sich mit „Response I“ in die Sommerpause

Kurz vor Ende der Spielzeit kehrte das Stuttgarter Ballett für zwei Tage auf die Bühne zurück. Es wurde ein berührender Triumph der Kunst über die Angst.

Stuttgart, 28/07/2020

Es war ein Abend unter strengen Sicherheitsvorkehrungen: Mund-Nasen-Schutz war im ganzen Haus verpflichtend, nur während der Vorstellung war es erlaubt, die Maske abzunehmen. Von den 1.404 Sitzplätzen im Großen Haus des Württembergischen Staatstheater durften gerade mal 269 besetzt werden – die ersten vier Reihen blieben ganz gesperrt, danach war nur jede zweite Reihe geöffnet, und zwischen einem oder zwei (für Paare) besetzten Plätzen mussten jeweils drei Sessel freibleiben. Bei so großen Lücken fragt man sich allerdings schon, warum für Theater und Konzerthäuser eigentlich andere Bedingungen gelten als für Flugzeuge oder die Bahn, wo man sehr viel gedrängter beieinander sitzt, und das über viele Stunden hinweg.

Der Andrang auf diesen Abend war groß: 19.000 Anrufe hatte es innerhalb der ersten Stunde gegeben, als die Karten für die wenigen Vorstellungen von „Response I“ in den Verkauf kamen – ein Ansturm, der einmal mehr belegt, wie sehr die Menschen danach hungern, endlich wieder in die Theater und Konzerthäuser zu dürfen.

Und so geriet dieser Ballettabend natürlich zu einem einzigen Triumph für die Tänzer*innen, die erkennbar glücklich waren, sich nach all den Monaten des Lockdowns wieder dort präsentieren zu können, wo sie hingehören: auf der Bühne. „Something old, something new, something classic, something blue“ lautete der Untertitel zu „Response I“, in Anlehnung an den alten Brauch, der einer Braut an ihrem Hochzeitstag Glück verheißen soll (das Original heißt: „something old, something new, something borrowed, something blue“). Und dieserart war der Ballettabend tatsächlich zusammengesetzt – etwas Altes (der unsterbliche „Sterbende Schwan“ nach Michel Fokine“), etwas Neues (drei Uraufführungen von drei Tänzern der Kompanie), etwas Klassisches (eher neoklassisch das „Solo“ von Hans van Manen aus 1997). Das Blaue war allerdings eher etwas Rotes – eine der grandiosesten Choreografien, die die Ballettliteratur kennt: Maurice Béjarts „Bolero“. Der Tisch, auf dem der Solist tanzt, ist in leuchtendes Rot getaucht. Blau waren dafür die Kostüme bei „Empty Hands“.

Zu Beginn jedoch gehörte die Bühne erst einmal dem Chef: „Ich bin wahrscheinlich der glücklichste Ballett-Intendant der Welt“, gestand Tamas Detrich in seiner Rede zu Beginn des Abends. Vielen Kompanien sei es keineswegs vergönnt, nach der Sommerpause zurückzukehren, sondern erst im Dezember oder womöglich noch später. Bei dieser Gelegenheit bedankte sich Detrich auch noch einmal ausdrücklich bei seinem Vorgänger, dem im Saal anwesenden Reid Anderson, der 22 Jahre lang nicht aufgegeben hat, für den Neubau der Ballettschule zu kämpfen – jetzt ist sie fertig geworden und soll im September bezogen werden.

Dass der Abend nicht auf die ausgedünnten Ränge des Großen Hauses beschränkt blieb, war dem Autohersteller Porsche zu verdanken, dem Hauptsponsor des Stuttgarter Balletts. Die Firma hatte es ermöglicht, die gesamte Aufführung via Satellit auf den „Kulturwasen“ (Stuttgarts großes Gelände, auf dem sonst der „Wasen“ ausgetragen wird, andernorts bekannt als „Kirmes“ oder – in Hamburg – „Dom“) zu übertragen, wo sie auf einem 240 Quadratmeter großen LED-Screen präsentiert wurde. Das Wetter spielte mit, und so konnten an dem lauen Sommerabend rund 2.000 Zuschauer*innen in Autos oder auf Liegestühlen in abgetrennten Boxen die Aufführung kostenlos verfolgen (die normalerweise zu Spielzeitende übliche Übertragung in den Stuttgarter Schlossgarten als „Ballett im Park“ war wegen des begrenzten Platzes nicht möglich). Detrich versäumte es deshalb nicht, sich überschwänglich bei diesem Sponsor zu bedanken – und dessen Personalvorstand Andreas Haffner höchstselbst verkündete nicht ohne Stolz, dass man sich – das Ballett sei für ihn „eine echte Herzensangelegenheit“ – für weitere drei Jahre verpflichtet habe, die Kompanie zu unterstützen.

Den Auftakt des Abends machte „Petals“, eine Kreation von Halbsolist Louis Stiens zu Klaviermusik von Domenico Scarlatti und François Couperin (gespielt von Alastair Bannerman) für zwei Tänzerinnen und zwei Tänzer. Es sind fein aufeinander abgestimmte Soli und Pas de Deux sowie Pas de Quatre – natürlich auf Abstand. Zwischen Agnes Su in Türkis und Martí Fernández Paixà in Rosa entwickelt sich ein kleiner Machtkampf um den besseren Platz und zwei Stühle, während Angelina Zuccarini und Shaked Heller als Schattengestalten den beiden eine Art Spiegel vorhalten

Als Kontrast danach der „Sterbende Schwan“ mit Anna Osadcenko – die dieses Bravourstückchen einer jeden Ballerina technisch sicher untadelig, aber doch nicht so lyrisch und ätherisch-delikat präsentierte, wie man sich das von diesem Werk erwartet.

„Empty Hands“ für drei Tänzerinnen und zwei Tänzer war die nächste Uraufführung, diesmal in der Choreografie von Fabio Adorisio, der als Halbsolist im Ensemble tanzt. Adorisio hat hier ganz offenbar all die Gefühle verarbeitet, die ihn während der Corona-Krise und dem erzwungenen Aufenthalt in den eigenen vier Wänden beschlichen haben müssen: Einsamkeit, Verlorenheit, Isolation, und am Schluss die leeren Hände. Das war schon sehr beklemmend, und stellenweise aufgrund doch vieler Wiederholungen im Bewegungsablauf auch etwas ermüdend. Die Musiker*innen des Staatsorchesters Stuttgart unter Leitung von Wolfgang Heinz spielten das „Lachrimae“ von Bryce Dessner im Bühnenhintergrund hinter einem Gaze-Vorhang – im Orchestergraben wäre es zu eng geworden für die strengen Abstandsregeln.

Das „Solo“ von Hans van Manen ließ dann aber wieder aufatmen und versprühte Lebensfreude pur. Die temporeiche, höchst dynamische Kreation zur Partita für Solovioline Nr. 1 von Johann Sebastian Bach (vom Band) für drei Tänzer, die jeweils solistisch auf der Bühne agieren, zeigte deutlich den Kontrast zwischen den noch tastenden Gehversuchen der jungen Choreografen und der Erfahrung und dem Können eines großen Meisters. „Solo“ erfordert höchste Präzision und technische Perfektion – Adhonay Soares da Silva, Fabio Adorisio und Matteo Miccini waren beidem gleichermaßen aufs Feinste gewachsen.

„Everybody needs some/body“ von Roman Novitzky zu „Winter“ und „Spring“ aus „The Four Seasons“ von Max Richter (wiederum vom Orchester im Bühnenhintergrund gespielt, weshalb die Solo-Violine der sehr fein aufspielenden Elena Graf elektronisch verstärkt wurde, was dem Klang nicht unbedingt gut bekam) war dann schon wieder melancholischer. Gewitzt die Idee, den jeweils drei Tänzerinnnen und Tänzern eine Modepuppe an die Seite zu stellen. Von allen drei Uraufführungen war dies die sicher ausgereifteste und spannendste.

Den absoluten Höhepunkt jedoch und den Abschluss des Abends bildete Maurice Béjarts unsterblicher „Bolero“ zur ebenso unsterblichen Musik von Maurice Ravel – ebenfalls adaptiert auf Corona-Bedingungen: die eigentlich 38 Tänzer umfassende Garde der Männer als Rhythmusgeber rund um den Solisten wurde mit Erlaubnis von Gil Roman und der Fondation Maurice Béjart auf acht reduziert. Friedemann Vogel tanzte sich hier ebenso elegant wie kraftvoll in Ekstase – und der Jubel am Ende des Abends stand dem eines voll besetzten Hauses in nichts nach. Das Stuttgarter Ballett hatte ein unmissverständliches, bewegendes Zeichen gesetzt: #weareback – wir sind zurück. Hoffen wir, dass es auch nach der Sommerpause so bleibt und dass sich der Zuschauerraum wieder mehr füllen darf.
 

Kommentare

Noch keine Beiträge