„Witches“ von Ursina Tossi

„Witches“ von Ursina Tossi

Frevel zur Stärke

Die Figur der Hexe im Stück von Ursina Tossi

Resilienz und der solidarische Zusammenhalt von Körpern ist immer wieder Thema der Hamburger Choreografin und wird in „Witches“, das im Berliner Ballhaus Ost zu Gast war, facettenreich aufgespalten.

Berlin, 11/03/2020

Ich werde, bin angeklagt. Ich sitze fest, mit wirren Augen durchforste ich den Raum um mich, der stetig enger wird, näherkommt. Die Gesichter der Anklagenden verschwimmen. Etwas drückt sich in meinen Rücken. In mir wütet es. Bahnt sich seinen Weg durch Gefäße und Muskeln, drückt zur Seite, beult aus, entkommt meinem Körper. Schreit sich in die Welt. Wo sich alles verformt. Die Wahrheit zur Lüge. Aufrichtigkeit zur Hinterhältigkeit. Freiheit zu Besitztum. Stärke zu Frevel. Die Richtungen ändern sich schnell. Springen hin und her. Das Sein wird zur Anmaßung erklärt. Kraftstrotzend entblößt sich die Wut.

Tatsächlich befinde ich mich im Ballhaus Ost in Berlin. In der Mitte des Bühnenraumes, ein Zirkel aus schwarzen Papierfetzen. Geschredderten Müllsäcken. Asche. Die fünf Tänzerinnen beginnen zu weinen, zu heulen, zu jammern. Diese übertriebene Verzweiflung hinterlässt, nach einem sanften Einstieg in das Stück, erstmal Irritation, läutet aber bereits einen Ton des Stückes ein, der sich von da an immer weiter steigert, bis die Irritation sich transformiert, an Stärke gewinnen wird.

In dem sanften Einstieg zuvor wurde man von den einzelnen Tänzerinnen zu den Plätzen am Boden begleitet und aufgefordert die Augen zu schließen, dann folgten Anweisungen einer klaren, ruhigen Stimme. „Entspann deinen Körper.“ Ein Countdown wird hinunter gezählt. Simple Anweisungen folgen einer jeden Zahl. Die Stimme lotst den Körper immer weiter in die Tiefen der Erde. Lässt ihn sinken. Lässt ihn sich ausdehnen. Die Begriffe Zukunft und Faschismus fallen. Eine Direktheit, die im absoluten Widerstand mit der Ruhe der Situation steht. Sinn ergeben sie allemal im Anbetracht dessen, was kommen wird.

Was kommen wird, sind wildeste Eindrücke von Verzweiflung, Hysterie und Wut. Sie beginnen zu verschwimmen mit solchen von Stärke, Widerstandskraft, Aufbegehren und Stolz. Die Resilienz und der solidarische Zusammenhalt von Körpern ist immer wieder Thema der Hamburger Choreografin Ursina Tossi und wird auch hier wieder facettenreich aufgespalten. Spannungsgeladen zucken die Körper der Tänzerinnen, werfen große Gesten in den Raum und verführen mit kleinen Handbewegungen und wilden Blicken. Was schreckt hier so sehr ab und zieht gleichermaßen in seinen Bann? Die Konnotation der hysterischen Frau, des auffallenden, ungehorsamen Körpers? Unangepasst und provokativ verbinden sich Zungen, spuken und lachen die Münder, werfen sich die Körper dem Publikum und sich gegenseitig entgegen. Die Zuschauer*innen werden dabei immerfort aufs Neue mit Bildern vermeintlich ausbrechenden Irrsinns und triebgesteuertem Treiben konfrontiert, und dadurch mit Fragen, woher denn diese Irritation kommt, wie tief diese Zustimmung mit der Richtigkeit von Zurückhaltung doch in einem sitzt, die sich auch in dem ach so gleichberechtigtem Selbst immer noch Bahn schlägt. Wofür wird sich geschämt? Wer bestimmt diese Grenzen?

Zur gleichen Zeit fühlt man auch Verbundenheit, Eingebundenheit. Die Tänzerinnen bewegen sich durch das gesamte Stück wie Geheimnistragende, Wissende, bilden eine Schneise zwischen Vergangenem und Zukünftigem, scheinen dadurch der Gegenwart komisch entrückt. Als hätten sie einen stärkeren Drang zu dem zu sprechen was war, was geschehen ist, aber auch was kommen wird. Wofür angeklagt, gehetzt und gestorben wurde und werden wird? Diese schauerhafte Verbindung zwischen faschistischen Ideologien und sexistischen, patriarchalen Strukturen, der Vereinnahmung des Uterus, dem als Gebärmaschine die volkserhaltende Verantwortung auferlegt wird lässt einen bis ins Mark erzittern und gleichzeitig weckt es eine ungeahnte Kraft. Zu Gunsten des Gemeinwohls lässt es sich auch trotzen! Alles, was nicht soll, wird werden. Erhebt euch!
 

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