Proben im Ballettsaal in Hamburg: Ray Barra, Victor Hughes, John Neumeier, Truman Finney (vorne)
Proben im Ballettsaal in Hamburg: Ray Barra, Victor Hughes, John Neumeier, Truman Finney (vorne)

Ein großer Künstler und Mensch

Der Tänzer, Choreograf und Ballettdirektor Ray Barra wird 90

Ray Barra hat eine bemerkenswerte Karriere gemacht – aus Anlass seines 90. Geburtstags am 3. Januar erscheint jetzt seine Biografie als Buch, geschrieben von Victor Hughes.

Marbella, 03/01/2020

Er war eine der wichtigsten tänzerischen Stützen, die das „Stuttgarter Ballettwunder“ Anfang der 1960er Jahre ermöglichten, und doch wird sein Name in diesem Zusammenhang meist nicht erwähnt: Ray Barra. John Cranko hat gerade diejenigen Ballette, die seinen Weltruhm begründeten – die Stuttgarter Neufassung von „Romeo und Julia“ (1962) sowie „Onegin“ (1965) – mit Ray Barra in den Hauptrollen erarbeitet; Kenneth MacMillan besetzte ihn zuerst in „Las Hermanas“ (1963), danach in seinem weltberühmtem „Lied von der Erde“, das 1965 in Stuttgart uraufgeführt wurde, neben Marcia Haydée und Egon Madsen. Ray Barra prägte diese Rollen mit seiner unprätentiösen Tanzkunst ebenso wie mit seiner Eleganz und männlichen Ausstrahlung.

Wie wichtig er sowohl für die Stuttgarter Entwicklung war, und ebenso, welch langjährige große Karriere er machen durfte, nicht nur als Tänzer, sondern später auch als Ballettmeister und -direktor, bringt jetzt eine Biografie ans Licht, die anlässlich des 90. Geburtstags von Ray Barra am 3. Januar 2020 erscheint. Sie trägt nicht ohne Grund den Untertitel „A Life in Ballet“, was im Deutschen ebenso schön wie treffend eine doppelte Bedeutung hat: ein Leben im Ballett, aber auch ein Leben für das Ballett. Geschrieben hat sie Victor Hughes, selbst viele Jahre lang Tänzer und Ballettmeister beim Hamburg Ballett unter John Neumeier.

Es ist nicht nur ein großartiges Buch über eine hochinteressante Persönlichkeit und einen bemerkenswerten Künstler, sondern es zeichnet gleichzeitig auch wichtige Stationen der Ballettgeschichte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts nach. Denn Ray Barra, gebürtiger Amerikaner, war immer da, wo es im Tanz gerade spannend wurde: zuerst als Tänzer beim San Francisco Ballet von 1948 bis 1953 (mit einer zweijährigen Unterbrechung, weil er als GI im Korea-Krieg dienen musste, zum Glück aber in Japan stationiert war und somit nicht im Kriegsgeschehen selbst). Dann, von 1953 bis 1958, beim Ballet Theatre (dem späteren „American Ballet Theatre“). Weil die Zukunft dieser Kompanie jedoch ungewiss war, wagte Barra 1958 den Sprung über den großen Teich nach Stuttgart, wo er zuerst unter „Papa“ Beriozoff, dann unter John Cranko als Solist tanzte, bis ein Riss der rechten Achillessehne ausgerechnet an seinem 36. Geburtstag seiner aktiven Bühnenkarriere abrupt ein Ende setzte.

Als Ballettmeister begleitete er danach Kenneth MacMillan in dessen Jahren als Ballettdirektor an der Deutschen Oper Berlin, bis 1970 John Taras die Leitung übernahm. Von 1970 bis 1976 unterstützte er John Neumeier, zuerst in Frankfurt am Main, ab 1973 dann in Hamburg. Neumeiers große Kreationen in dieser Zeit wie seine komplett neue „Romeo und Julia“-Adaptation (1971), „Der Nussknacker“ (ebenfalls 1971), „Daphnis und Chloe“ (1972), „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ (1975) und „Illusionen – wie Schwanensee“ (1976) hat Ray Barra begleitet und aus der Taufe gehoben. Später assistierte er Neumeier freiberuflich bei weiteren wichtigen Werken, z. B. „Josephs Legende“ (Wien 1977), „Die Kameliendame“ (Stuttgart 1978) und „Endstation Sehnsucht“ (Stuttgart 1983).

Von 1985 bis 1990 leitete Ray Barra das Ballet Nacional de Espana/Clásico in Madrid (das später umbenannt wurde in „Ballet del Teatro Lirico Nacional“) und kreierte dort selbst eine Reihe von neuen Balletten (darunter eine eigene Version von „Der Nussknacker“). Diese Aufgabe war umso willkommener, als er kurz zuvor dauerhaft nach Menorca übersiedelt war. Barra war homosexuell zu einer Zeit, in der man das noch verstecken musste, weil es gesellschaftlich geächtet und strafbar war. Er war einige Jahre lang der Gefährte von Erik Bruhn, bevor dieser Rudolf Nurejew kennenlernte. Und er führte eine sehr glückliche, 54 Jahre währende Partnerschaft mit dem Tänzer Maximo Barra, seiner großen Liebe. Später siedelten beide des noch besseren Wetters wegen nach Marbella über, wo Barra bis heute lebt, seit Sommer 2018 allerdings alleine – Maximo starb am 9. August an Krebs.

In den 1990er Jahren brachte Barra die „State School of Dance“ in Athen auf Vordermann, um dann noch einmal von 1994 bis 1996 nach Berlin zurückzukehren, weil ihn der damalige Intendant der Deutschen Oper, Götz Friedrich, bat, die Ballettdirektion nach dem abrupten Weggang von Peter Schaufuss interimsweise für ein halbes Jahr zu übernehmen. Barra blieb zweieinhalb Jahre, und es wurden für die Ballettkompanie der Deutschen Oper mit die schönste und künstlerisch erfolgreichste Zeit.

In dieser Zeit und in den Jahren danach choreografierte er mehr und mehr, unter anderem „Leyla and Majnun“ für eine Ballettkompanie in Istanbul (1996); „Don Quichotte“ (1991), „Schwanensee“ (1995) und „Raymonda“ (2001) für das Bayerische Staatsballett; Mikis Theodorakis‘ „Canto General“ nach Gedichten von Pablo Neruda für das Griechische Nationalballett (2005) und schließlich 2007 noch eine ganz eigene Version von „Carmen“ für das Ballett des Badischen Staatstheaters Karlsruhe unter der Leitung von Birgit Keil – vielleicht der Höhepunkt seiner choreografischen Tätigkeit, die insgesamt 20 Werke umfasst, nicht wenige davon abendfüllend.

Das Spannende an diesem bunten Kaleidoskop eines großen Künstlerlebens sind die vielen Begegnungen und Verflechtungen mit der Ballettwelt des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Victor Hughes hat das alles so zusammengestellt und aufgeschrieben, dass man dieses 250 Seiten umfassende Buch gar nicht mehr aus der Hand legen möchte. Barra war Teil einer Entwicklung, die den Tanz unserer Zeit maßgeblich geprägt hat. Das Stuttgarter Ballett war damals die Wiege aus der einige der bedeutendsten Choreografen unserer Zeit hervorgingen: John Neumeier, Jiří Kylián, William Forsythe, Uwe Scholz, um nur die wichtigsten zu nennen.

Wie ist es dazu gekommen, dass mit Victor Hughes ausgerechnet ein früherer Tänzer und Ballettmeister der Hamburger Kompanie, der Ray Barra nur flüchtig kannte, diese Biografie aufgeschrieben hat? „Ich hätte dieses Buch nie geschrieben, ohne die Aufforderung von Giselle Roberge“, sagt er. „Giselle, heute eine Freundin, war früher eine Kollegin: Wir waren beide Tänzer und Ballettmeister beim Hamburger Ballett. Als Giselle aufhörte zu tanzen, arbeitete sie kurze Zeit als Ballettmeisterin in Ulm und hatte dann das Glück, von Ray Barra zum Ballet Nacional de España/Clásico geholt zu werden. In dieser Zeit, die sie Ray näher brachte, entstand das Gefühl, dass seine Leistungen für das Ballett nicht ausreichend gewürdigt oder dokumentiert worden waren. Giselle bat mich, seine Biografie zu schreiben, bevor es zu spät sei. Bis ich mit den Recherchen zu seiner Lebensgeschichte begann, war mir kaum bewusst, wie vielfältig und facettenreich seine Karriere war, die sich über die gesamte zweite Hälfte des 20. und bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erstreckte – sie umfasst 60 Jahre. Ray hat die wichtigsten Persönlichkeiten der jüngeren Ballettgeschichte getroffen und/oder mit ihnen gearbeitet. Was für ein Reichtum!“

Förderlich für Barras Bereitschaft, Hughes seine Lebensgeschichte zu erzählen, war ein Aufsatz, den dieser im Rahmen seiner Vorarbeiten für die Balletthistorie über Anthony Tudor (1908-1987) geschrieben hatte. Ray Barra hat Tudor noch selbst beim American Ballet Theatre erlebt, und Hughes wollte wissen, ob er mit seiner Darstellung ins Schwarze getroffen hatte. „Ray las diesen Essay und sagte dann zu mir: ‚Das ist gut, aber vielleicht schreibst Du erst einmal meine Biografie?‘ Er wusste, dass es über die Stuttgarter Koryphäen schon diverse Biografien gab – John Cranko, Marcia Haydée, Egon Madsen, Birgit Keil, Georgette Tsinguiridis. Seine fehlte noch. Auch Birgit Keil hat Barra dazu ermutigt. Sie sagte: ‚Du solltest Deine eigene Geschichte erzählen.‘ Und er tat es.

Zwei Jahre arbeitete Victor Hughes an diesem Buch. Er recherchierte die gesamte Lebensgeschichte und besuchte Ray des Öfteren in Marbella. „Ray selbst sagt, dass er eigentlich kein großer, bravouröser Tänzer war, aber er war auf jeden Fall ein ausgezeichneter Partner, vor allem für Marcia Haydée, die mit ihm zusammen zu Stuttgarts Primaballerina erblühte.“ Horst Koegler schrieb 1964 in seinem Buch „Ballett in Stuttgart“: „In seinen Handlungsballetten hat Cranko die Rolle des männlichen Helden neu definiert. In ‚Schwanensee‘, in ‚Romeo und Julia‘, im ‚Feuervogel‘ ist es der männliche Held, der im Zentrum des dramaturgischen Kraftfeldes steht. Eine revolutionäre Tat. Sie wurde möglich durch das Vorhandensein Ray Barras. An seinem Beispiel zeigt sich vielleicht am deutlichsten, wie Cranko seine Ballette nicht für irgendwelche fiktive Idealbesetzungen schafft, sondern genau für die Tänzer, die ihm zur Verfügung stehen. Barra ist nicht eigentlich ein Danseur noble, sondern ein tanzender Charakterdarsteller (die herkömmlichen Fachbezeichnungen sind auf ihn nicht anwendbar). Er verfügt über eine etwas raue Technik, die er allerdings in den letzten Jahren merklich aufpoliert hat. Er gestaltet keine abstrakten Figuren, sondern scharf profilierte Rollen, aufrechte, gerade, sehr männliche Charaktere, Individuen, die von einem heißen menschlichen Atem beseelt sind. Ein geborener Kavalier, ist er der vorzüglichste und anpassungsfähigste Partner, den sich eine Ballerina nur wünschen kann.“

Das Besondere an Barra, so sagt Victor Hughes, sei seine tiefe Menschlichkeit: „Ray hat eine unglaublich angenehme Art – im Ballettsaal wie auch im persönlichen Umgang. Er ist fordernd, kann auch streng sein, aber er ist immer fair. Er putzt nie jemanden herunter, sondern motiviert positiv. Er hat immer gute Laune, er bringt eine positive Stimmung mit. Das ist nicht nur für die Tänzerinnen und Tänzer, sondern auch für die Choreografen wichtig. John Neumeier sagte mir, es sei fantastisch gewesen, Ray in den ersten Frankfurter Jahren an seiner Seite gehabt zu haben. Ray war immer da, wenn er ihn brauchte, er sagte nie ‚nein, das geht jetzt nicht‘, auch wenn es darum ging, abends oder an einem Sonntag noch die Musik auszuzählen oder eine Probe vorzubereiten. Jeder, der mit ihm arbeitete, liebt ihn. Es gibt niemanden, der ihn ablehnt oder schlecht über ihn spricht – das will etwas heißen in der Welt des Balletts, es ist absolut außergewöhnlich! Wem auch immer ich erzählt habe, dass ich seine Biografie schreibe, sagte: ‚Oh, wie wunderbar! Das hat er verdient!‘“

Ray Barra hat, so sagt Victor Hughes, „immer das Beste aus dem gemacht, was ihm von seinen Lebensumständen her entgegenkam. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und er hat eine unermessliche Liebe zum Tanz und zu den Tänzern. Das zeichnet ihn aus.“

Happy Birthday, Ray Barra!

Hier geht es zur englischen Version des Textes.

Victor Hughes: „Ray Barra – A Life in Ballet“, The Book Guild Ltd., aktuell nur in englischer Sprache, 12,99 Englische Pfund bzw. 15,63 Euro

 

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