„Alice“ von Mauro Bigonzetti

„Alice“ von Mauro Bigonzetti

Alice in bella Italia

Überraschung: Mauro Bigonzetti choreografiert „Alice“ für Gauthier Dance

Die ganze Truppe formt immer wieder überraschende Tableaus, in die sich die literarischen Figuren einfügen, wie es gerade so kommt. Eric Gauthier, der in die Rolle des englischen Autors schlüpft, hält verbal dagegen.

Stuttgart, 27/06/2014

Man könnte auf die Idee kommen, dass freie Tanzcompagnien in unmittelbarer Nachbarschaft zu etablierten festen Tanzsparten kaum gedeihen können. Aktuelle Beispiele beweisen das Gegenteil: In Mainz hat sich die Delattre Dancecompany quasi vom städtischen Ballett (unter der wenig glücklichen Leitung von Pascal Touzeau) abgespalten und an den Kammerspielen überraschend gut etabliert. In Stuttgart hat mit Eric Gauthier ein ehemaliger Star des Balletts noch in der aktiven Laufbahn den Absprung gewagt – und mit Gauthier Dance im Theaterhaus eine erstaunliche Erfolgsgeschichte geschrieben. Für eine Fortsetzung des veritablen Höhenfluges landete Eric Gauthier einen neuen Coup: Er konnte Mauro Bigonzetti für ein abendfüllendes Handlungsballett gewinnen. Der erfolgreichste italienische Choreograf und „Macher“ des Aterballetto füllt mit schöner Regelmäßigkeit weltweit große Säle - auch beim Stuttgarter Ballett. Mit seinem Engagement hat sich Gauthier Dance eine große Hausnummer zugeschrieben – in künstlerischer und natürlich auch finanzieller Hinsicht.

Denn Bigonzetti kommt nicht allein: Für seine Fassung von Lewis Caroll's populären Kinderbüchern für Erwachsene („Alice im Wunderland“, „Alice hinter den Spiegeln“) hat er sein musikalisches Dreamteam mitgebracht. Mit den drei stimmgewaltigen Damen des ASSURD-Ensembles hat er schon öfter gearbeitet, und zusammen mit Komponist und Akkordeonspieler Antongiulio Galeandro und Songwriterin Enza Pagliara sorgen sie live auf der Bühne für eine echt italienische Erdung der phantastischen Geschichte. Süditalienische Kinder- und Volkslieder gehen da eine homogene Verbindung ein mit neuen Songs und rhythmischer Untermalung. Hierzulande hat Hannes Wader den verspielten, manchmal anarchischen Witz traditioneller Volksmusik wiederbelebt, für Italien tun es diese Fünf – nur mit viel, viel mehr Stimmvolumen.

Bei solch musikalischer Ursprünglichkeit löst sich auch Mauro Bigonzetti – zum Glück – mehr und mehr von den Details der literarischen Vorlage und lässt der eigenen Phantasie freien Raum. Alice wechselt in den Büchern beständig ihre Größe – Bigonzetti lässt einfach zwei Tänzerin gemeinsam die Figur darstellen: Anna Sühyla Harms, eine langgliedrige Rothaarige, und Garazi Perez Oloriz, eine über einen Kopf kleinere Blondine. Zusammen haben sie viele, viele Facetten – und schaffen das Kunststück, rollengetreu jung, neugierig und authentisch zu wirken. Denn die Erlebnisse von Alice sind hier auch eine Lektion im Erwachsenwerden, ohne sich unterkriegen zu lassen – und erste sinnliche Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht (einfühlsam: „Hutmacher“ Florian Lochner). Zeremonienmeister des phantastischen, übermütigen Geschehens ist das Kaninchen, eine attraktive Paraderolle für Rosario Guerra. Furchterregende Gegenspielerin ist die Königin (Anneleen Dedroog), von Kostümbildnerin Helena de Medeiros zum Emanzen-Glatzkopf gestylt – wie überhaupt die phantastischen Kostüme viel Raum für Phantasie geben.

Je später der Abend, desto mehr davon hat sich Mauro Bigonzetti zugestanden, die ganze Truppe formt immer wieder überraschende Tableaus, in die sich die literarischen Figuren (Katze, Raupe, Siebenschläfer, Greif) einfügen, wie es gerade so kommt. Eric Gauthier, der in die Rolle des linkischen, menschenscheuen englischen Autors schlüpft, hält mit philosophischen Betrachtungen verbal dagegen – umsonst. Der Abend endet in bella Italia, sehr zur Begeisterung des Publikums.

Nächste Vorstellungen: 28. Juni, 1., 2. 3., 5., 6. Juli
 

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