„Lieben Sie Gershwin?“ von Marco Goecke

„Lieben Sie Gershwin?“ von Marco Goecke

Rhapsody in Black

Gauthier Dance mit Marco Goeckes „Lieben Sie Gershwin?“ in Ludwigshafen

Ein ungewöhnliches Stück, das trotz (fast) strengen Berührungsverbots nahezu die ganze Kompanie von Gauthier Dance auf die Bühne bringt und Altbekanntes aus der Handschrift des Choreografen mit überraschend Neuem verbindet.

Ludwigshafen, 15/10/2020

Goecke und Gershwin – die Kombination hätte man sich selbst kaum ausgedacht. Denn Marco Goecke, aufstrebender Star aus der Stuttgarter Choreografen-Schmiede, hat sich als Spezialist fürs Düstere, Melancholische und oft genug Tieftraurige einen Namen gemacht. Zum Senkrechtstart in der internationalen Tanzszene – aktueller Landeplatz: Leitung der Tanzsparte am Staatstheater Hannover – hat seine früh entwickelte, unverwechselbare choreografische Handschrift beigetragen. Düstere Bühnenräume, Tänzer*innen in schwarzen Hosen, die dem Betrachter die bloßen Rücken zuwenden, aberwitzig schnelle, abgehackte Bewegungen von Schultern, Armen, Händen – so bevölkert Goecke gern die Bühne mit ungelenken Riesenvögeln. „Zu viel Flattern zerbricht die Flügel“, möchte man ihnen zurufen, aber sie heben, natürlich, niemals ab

Für sein brandneues Stück „Lieben Sie Gershwin“, das erst vor einer Woche bei Gauthier Dance in Stuttgart Premiere feierte, hat Goecke auf ein bewährtes Team zurückgegriffen: Udo Habeland für die Beleuchtung und Michaela Springer für Bühne und Kostüme. Letztere sind, natürlich, überwiegend schwarz: zunächst Unisex-Anzüge mit Glitzerdetails, später auch bunte Muster auf schwarzen Hemden; immerhin ist der Tanzboden hell. Die typischen Goecke-Moves hat der Choreograf dieses Mal raffiniert gekreuzt mit Stummfilm-Bewegungsvokabular. So wird, 20er-Jahre-gemäß, gezuckt, gezittert und grimassiert – und auf wundersame Weise mischt sich das tänzerische Damals mit dem Heute, über hundert Jahre hinweg.

George Gershwin war ein Ausnahmetalent, ein frühvollendetes Wunderkind, das mit außerordentlicher Souveränität in wenigen schöpferischen Jahren zwischen U- und E-Musik, zwischen Broadway und Konzertsaal hin- und herpendelte; 38jährig starb er an einem Hirntumor. Die Tragik dieser Existenz mag Goecke angezogen haben; jedenfalls beweist er bei der Musikauswahl eine deutliche Präferenz der dunklen, melancholischen und sperrigen Seiten dieses Komponisten. Die Gershwin-Ohrwürmer werden zwar auch gespielt, aber entweder stimmlich oder tänzerisch deutlich gegen den Strich gebürstet. Den Auftakt macht eine ungewöhnliche Fassung des Allzeit-Klassikers „Summertime“, nämlich gesungen von Janis Joplin und damit über jeden Verdacht einer glatten Oberfläche erhaben.

Es sind ausnahmslos Solos, Duos, und Trios, in denen Goecke immerhin achtzehn Gauthier-Tänzer*innen einsetzt, streng nach den zur Probenzeit herrschenden Corona-Regeln. Es geht, bis auf die Ausnahme einer innigen Frauen-Umarmung, berührungsfrei zu; die Unmöglichkeit von Nähe ist freilich für Goecke ein Grundthema ganz ohne Virus. Entstanden ist das ungewöhnliche Stück während des Lockdowns, wo Eric Gauthier im Internet mit Gesellschaftstänzchen für Jedermann/Jedefrau Frohsinn verbreitete, ihm aber für seine Kompanie das Herz blutete. Ein ehrgeiziges Schwanensee-Projekt mit mehreren prominenten Gastchoreograf*innen musste kurz vor dem Start gekippt werden. So lud er kurzerhand seinen Noch-Haus-Choreografen Goecke ein, in Stuttgart ein pandemiegerechtes Stück zu erarbeiten. Weil – die internationale Tanzwelt ist halt doch ein Dorf – Marco Goecke aktuell auch als Kurator der laufenden Ludwigshafener Tanzfestspiele fungiert, konnte er sein eigenes Stück kurzfristig als Ersatz für ein ausgefallenes Gastspiel aus Israel einladen. (Der Wegfall vieler ausländischer Gastspiele sichert dieser Stuttgarter Produktion eine ausdauernde Gastspielreise durch die Republik).

Die 70minütige Revue mixt nach allen Regeln dramaturgischer Finesse gefühlige Songs und Orchesterwerke, die fast überraschend modern klingen. Zum Abschluss darf ein Solist zur „Rhapsody in Blue“ so richtig schön tieftraurig sein, mit blankem Oberkörper und zuckendem Rücken, ganz wie es sich für ein Goecke-Stück gehört.
 

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