Kleine Hommage an Martha Graham
Robert North‘ neuer Vierteiler „Kontraste & Rhythmen“
Von Mareike Lyssy
Kurzgeschichten verkaufen sich schlechter als Romane. Hat man sich erst einmal auf einen Charakter eingelassen, dessen Sorgen kennengelernt und seine Art zu denken verstanden, möchte man nicht direkt in neue Gedankenwelten geworfen werden. Man hängt an der einsetzenden Vertrautheit. Man verschmilzt im besten Fall mit dem Schicksal, das sich vor den eigenen Augen ab- und sich allmählich in die eigenen Gedanken einzeichnet. Doch diese kleinen, ohne Vorwarnung einsetzenden, mitunter abrupt endenden Kurzgeschichten stören das menschliche Bedürfnis nach Gewöhnung. Gerade, wenn man sich von dem Nachhall der vorangegangenen Geschichte gelöst und auf das Neue eingelassen hat, muss man dem Neuen als Altbekanntem schon wieder Lebewohl sagen. Ein Akt der Anstrengung, den auch Robert North in „Überraschung“ von seinem Publikum fordert.
Anlässlich des 75. Jubiläums des Theater Krefeld und Mönchengladbach habe der Ballettdirektor nach einer anderen Struktur als dem üblichen „Triple Bill“-Abend gesucht, heißt es im Begleitheft. Das Ergebnis ist eine Serie von sieben so genannten „Kurzgeschichten“, wie North die Stücke des Abends in einem Interview nennt. Die einzelnen Choreografien widmen sich hierbei jeweils einem eigenen Motiv, das erzählerisch und emotional verständlich aufbereitet wird.
Zukunftsvisionen und ein Schuss in den Kopf
Sprungintensive Ensembleszenen wechseln sich mit ausdrucksstarken Soli und figurativ getanzten Erzählungen ab. Unter mechanischer Spannung abgespreizte Gliedmaßen tanzender Puppen in farbgeblockten Bauhauskostümen heben eben noch die Stimmung, schon entführt uns die nächste Sequenz in die körperverzerrende Trauer einer Mutter um ihren im Krieg gefallenen Sohn. Ein solches Wechselbad der Gefühle will erst einmal verdaut sein, dachte sich wohl auch North und plante an dieser Stelle eine Pause ein.
Wechselhaft geht es weiter: Mit verrückten Perspektiven und einer ganz in Schwarz gekleideten Tänzerin, die in ihrem energischen Tanz auch vor Wigman’schen Hexenkrallen nicht zurückweicht. Scheinbar ohne Einfluss nehmen zu können, irrt ein Tänzer zwischen ihr, Rückblenden und Zukunftsvisionen über die Bühne und erlöst sich aus seinem Alptraum mit einem Schuss in den Kopf. Noch so ein abruptes Ende, wieder kein Übergang zur nächsten Kurzgeschichte. Dabei ist die anschließende Geschichte eigentlich eine lange, eine gemeinsame: diejenige von Robert North und dem Theater Krefeld und Mönchengladbach.
North ist seit 2007 am Theater Krefeld und Mönchengladbach, seit 2010 in der Funktion des Ballettdirektors. In Zusammenarbeit mit der Ballettmeisterin und seiner langjährigen Partnerin Sheri Cook schuf er zahlreiche Stücke zwischen Neoklassik, Modern Dance und Jazz Dance. Mit Inszenierungen wie „Mata Hari“, „Der Tod und das Mädchen“ oder „Tschaikowskys Träume“ wurde er zu einem Spezialisten des Handlungsballetts. „Überraschung“ nun ist Norths letzte Inszenierung für Krefeld und Mönchengladbach, er verlässt das Haus zum Ende der Saison.
Am Ende entschwindet er doch
Wenig überraschend endet der Abend daher mit einem Abschied: Nach einer Videosequenz, die Norths und Cooks Arbeitsweg bis in den Probenraum dokumentiert, übernimmt ein Duett auf der Bühne. Das sich einander vertrauensvoll hingebende Miteinander zwischen einem jungen Robert und einer jungen Sheri – so suggerieren es die Frisuren der beiden – wird unterbrochen: Die erst ehrfürchtig schreitenden, dann in Reihe tanzenden Kostüme aus früheren Arbeiten Norths in Gestalt der Tänzer*innen des Ensembles wollen den jungen Robert mit sich nehmen, ihn nicht gehen lassen. Am Ende entschwindet er aber doch mit Sheri ins Off.
Die sieben Kurzgeschichten von „Überraschung“ stürzen einen nicht allzu unvorbereitet in neue Welten. Die aus vergangenen Stücken vertraute Bild- und Bewegungssprache Norths zieht sich hindurch.
Zum Abschluss tanzen Vertreter*innen aus allen Stücken des Abends noch einmal gemeinsam um ein verhängtes Denkmal in ihrer Mitte. Und siehe da: Unter dem Tuch kommt eine große 75 zum Vorschein. So überraschend, wie der Titel suggeriert, ist das nicht. Aber „Rückblick auf 18 gemeinsame Jahre Wertschätzung zwischen Ballettdirektor und Publikum“ wäre wohl zu sperrig gewesen. Mit diesem Eindruck verlässt man den Saal jedoch, nachdem gerade diejenigen zum Applaudieren aufgestanden sind, die ihn zuvor auf einen Rollator oder den Arm ihrer Begleitung gestützt betreten hatten.
Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.
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