Kurz.Geschichten
„Überraschung“ von Robert North in Krefeld und Mönchengladbach
Von Charlotte Spahn
Energisch rammen Carmen (Irene Van Dijk) und die fünf Arbeiterinnen der Tabakfabrik (Alice Franchini, Flávia Harada, Victoria Hay, Nozomi Kakita und Teresa Levrini) ihre Messer in die vor ihnen stehenden Tische, ziehen diese schleifend von einer zur anderen Seite. Ganz so, als versuchten sie ihrem Schicksal zu entkommen. Doch die Tische ziehen sie wieder zurück. Die Körper wiegen sich in einer Mischung aus Stolz und Erschöpfung unter dem scheinbar nie anhaltenden Rad der Arbeit.
Robert North präsentiert mit „Carmen“ sein letztes Ballett als Ballettdirektor am Theater Krefeld Mönchengladbach. Es entstand bereits 2013 zu der neu komponierten Musik Christopher Bensteads hier am Haus auf der Grundlage von Prosper Mérimées bekannter Novelle aus dem 19. Jahrhundert. Die Ästhetik der Kostüme (Luisa Spinatelli) orientiert sich an der Bildwelt bekannter Maler wie Doré oder Goya. Die Choreografie stellt einen direkten Bezug zu den Tänzen Sevillas her. Das minimalistische Bühnenbild (Robert North) lässt aus multifunktionalen Holztischen Gassen, Brücken und Verstecke entstehen. Die Tänzer*innen stehen ganz im Vordergrund.
Dualistische Tanzwelt
Die Ordnung der hier präsentierten Tanzwelt ist sehr dualistisch und bedient sich an den körperlichen Klischees der „Soldat*innen“ versus „Bandit*innen“. Auch die choreografische Sprache ist durchzogen von Gegensätzen: Synchronisierte Gruppenformationen treffen auf eruptive Soli, strenge Linien auf expressive Ausbrüche, klassische Balletttechnik auf flamencoartige Haltungen. Es liegt (An-)Spannung in der Luft, die sich auch in der Körperlichkeit zeigt: Die Bewegungsqualität ist stark mit Emotionen verbunden – mit Stolz, Leidenschaft, Verzweiflung, Freude. Ein wiederkehrendes und verbindendes Element zwischen den Einen und den Anderen sind die explosiven Sprünge. Sie zeigen an, wie sich in der Beziehung zwischen Carmen und Don José (Alessandro Borghesani) ihre Welten und Körperlichkeiten immer mehr miteinander vermischen: So schwingt Don José plötzlich die Arme im angedeuteten Flamencostil, während Carmen neben ihm im militärischen Sprung dahinfliegt.
Übliche Lesarten
Carmen als Verführerin, Anführerin, als selbstbestimmte, emanzipierte Frau, die patriarchale Strukturen provoziert. Carmen wirbelt das Geschehen auf, sie tanzt erhöht über allen anderen in der Mitte auf dem Tisch und erteilt Männern Befehle. Auch in den leidenschaftlichen Pas de deux mit Don José gibt sie die Kontrolle nicht komplett ab, sondern führt ihn (in die Irre) und hebt ihn auch mal vom Boden. Dennoch bleibt sie über ihren Bezug zu Männern definiert: Ihr einziges Solo zeigt die Verzweiflung und Trauer über den Tod des einen Liebhabers (Andrii Gavryshkiv), weswegen der andere sie eifersüchtig ersticht.
Trotz einer Neukomposition verzichtet North in seiner „Carmen“-Adaption auf andere oder neue szenische Lesarten. Dennoch gelingt es ihm mit Hilfe der Musik von Benstead, einen atmosphärischen Bogen zur Flamencokultur Sevillas zu schlagen. Besonders das Spiel mit dieser Tradition verleiht den Figuren eine gewisse Dringlichkeit, die der klassischen Form Widerstand bietet. Paartänze kippen in Körperduelle, Flirt wird zur Machtdemonstration, und die Bühne zur Kampfzone zwischen Disziplin und Gefühl.
Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.
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