Mehr als „10 Odd Emotions“
Beim neuen Stück von Saar Magal bleiben Fragen offen
Von Vanessa Melde
Im dunklen Raum rekeln sich nackte Körper. Eine Männerstimme spricht. „Ich bin…“, sagt wer? Der Schöpfer? Der König der Welt? Körper liegen am Boden, ziehen sich empor, entfalten sich langsam oder werden sie verformt? Der Körper erscheint hier als Material, als Masse aus Ton. Wer formt ihn? Wer macht ihn zu dem, was er ist? Wer gestaltet die Menschen und ihr Sein? „Glaube macht unsterblich“, sagt die Stimme. Nacheinander wachsen sie zur vollen Größe und verlassen die Bühne in der Dunkelheit. „Am Anfang“ heißt das erste von insgesamt fünf Kapiteln, dessen erste Szene im Kontrast zum nächsten Bild schon vergessen scheint: Zu pulsierenden Beats singt und ruft das Ensemble uns entgegen, bewegt sich im Pulk über die Bühne, zeigt laut und stark das Gefühl der Sicherheit in einer Gruppe zu sein. Wir erkennen Gestiken der Hingabe und des Rückzugs in ihrer Körpersprache, doch wandeln sie immer wieder ihre Bedeutung: Gerade erinnert das Geschehen noch an den Aktivismus von Straßen-Demonstrationen, schon erheben die Tanzenden im grellen Licht eines Scheinwerfers die Hände, so als würden sie sich ergeben.
„Sakrileg“ befasst sich mit der Genesis, dem Text, der die Quelle aller drei abrahamitischen Religionen ist: Judentum, Christentum und Islam. Uraufgeführt im Grillo-Theater in Essen, beweist das interdisziplinäre Stück Vielschichtigkeit. Die Zusammenarbeit zwischen Ensemblemitgliedern des Schauspiels mit Tänzer*innen und Performer*innen aus dem Studiengang Physical Theatre der Folkwang Hochschule der Künste ist ein bildgewaltiger Flickenteppich aus Tanz mit Elementen aus dem Breaking, Voguing und Gaga, verwoben mit Schauspiel und Gesang. Magals Inszenierung fügt zuvor Unverbundenes scheinbar nahtlos zusammen. Die Texte wurden teilweise von den Ensemblemitgliedern selbst geschrieben und kombiniert mit Zitaten aus dem Ersten Buch Moses und philosophischen Werken, die den sakralen Text kritisch hinterfragen.
Die mobile Bühnenkonstruktion lässt die Zuschauenden in jeder Szene neue Perspektiven einnehmen. Die Darstellenden krauchen, fallen, klettern, schweben an Seilen. Projizierte Live-Nahaufnahmen holen die Zuschauer*innen noch näher an das Geschehen heran. Wir, das Publikum, sind mittendrin: Wir werden beklatscht, benannt, direkt adressiert, sind Zeug*innen, Mitleidende und Beteiligte.
Wie wir aus einem Interview im Programmheft erfahren, ist die Choreografin selbst „überhaupt nicht religiös“. Vielleicht will sie aber auch gerade deshalb der Frage nachgehen, wie es möglich ist, an einen Gott zu glauben, ohne andere Menschen und andere Geschlechter, insbesondere Frauen zu unterdrücken. Magal arbeitet schon länger erfolgreich international, entwickelte Projekte für die Batsheva Dance Company, die Bayerische Staatsoper oder die Berliner Staatsoper Unter den Linden. Mit „Sakrileg“ verfolgt sie kein geringeres Ziel als zu einem Ende der Gewalt in der Welt etwas beizutragen – wie Magal auch im Interview beschreibt.
Alles andere als ehrfürchtig
Das Stück nähert sich alles andere als ehrfürchtig den religiösen Ausgangstexten an, die Magal wie literarisches Material entschlüsselt. Dichte 90 Minuten stecken voller unerwarteter Momente satirischen Humors, aber auch empfindsamer Dramatik – es gelingt hier ein großartiger Balanceakt. Immer wieder durchläuft ein Kichern durch die Publikumsreihen. Ein Zwiegespräch zwischen Gott (Mathias Znidarec) und den Auserwählten über die Eroberung Kanaans karikiert das grausame Bild eines Gottes, der von Menschen unglaubliche Dinge verlangt. Diese bewegen sich wie Marionetten mit dümmlicher Sprache und verlorenem Blick. Die Komik bleibt nicht ohne Lacher. Der Philosoph Søren Kierkegaard schrieb in seiner Beschäftigung mit der Figur des Abraham von einer Verbindung des Glaubens mit dem Absurden. Diese Grenze lotet „Sakrileg“ immer wieder aus.
Die Gewaltbereitschaft der Gesellschaft wird ebenso hinterfragt wie die Legitimation von Gewalttaten als Glaubensbekenntnis in der Religion. „Opfer bringen“ heißt treffend das dritte Kapitel. Die Darstellenden schlagen wahllos verschiedene Waffen vor, die leider alle gerade nicht zur Hand sind. „Das Opfer ist eine Maßnahme, um die Gewalt in der Gemeinschaft zu unterdrücken,“ heißt es da und: „Gewalt findet Schutz in der Religion so wie Religion in Gewalt Schutz findet.“
Ein Darsteller hockt mit verbundenen Augen, die Hände scheinbar gefesselt, im Zentrum der Bühne. Er hat den Mund weit geöffnet, den Kopf in den Nacken gelegt, in einer Geste blinden Vertrauens. Bald werden Golfbälle auf ihn geschossen. Erst als er die Geräusche wahrnimmt, nimmt er die Augenbinde ab und erkennt plötzlich das „Spiel“, in dem er sich befindet. Das lässt ihn zurückweichen, doch hält der den Mund weiterhin offen, als sei er immer noch bereit, „mitzuspielen“. Magal hinterfragt die Funktion des Opfers und welche Legitimation Gewalttaten als Glaubensbekenntnis in Religionen haben. Zweifel an der Sicherheit, die der Glauben den Lebenden schenken sollte, werden offenbar.
Verdrängte Weiblichkeit
In Lack und Leder gekleidet, schütteln sich die Darsteller*innen und springen über die Bühne. Ist das Chaos? Ein Ritual? Vielleicht beides? Mit harter Gestik und selbstbewusstem Auftreten führt Hân Nguyễn lustvoll einen Monolog über den Bedeutungswandel des weiblichen Geschlechts und die vergessene Wertschätzung bis zur Unterdrückung des Weiblichen in sakralen Texten. Währenddessen wird das Treiben zunehmend chaotisch – ganz so, als gäbe es ein unterdrücktes Gefühl, das sich durch die Körper den Weg nach draußen bahnt, herausgeschüttelt werden könnte.
In einer Zeit, in der Radikalisierung und Ideologisierung um sich greifen, ist „Sakrileg“ kein Abend, der Antworten gibt, sondern einer, der Fragen aufwirft: Hält Religion uns Menschen wirklich zusammen? Welche Legitimation hat Gewalt in der Religion? Ist es möglich zu glauben, ohne andere zu unterdrücken? Und ist ein Leben ohne Glauben leer? Saar Magal gelingt es, das Publikum an die scherwiegenden Fragen dieses Abends heranzuführen, entfaltet ein beeindruckendes Netz von Texten, Referenzen und Zusammenhängen und hinterlässt bis zum Ende ein regelrechtes Kaleidoskop absurder Bilder, die fast zu wahr sind, um komisch zu sein.
Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts „Bewegungsmelder – Nachwuchswerkstatt für Tanzjournalismus aus NRW“, einer Kooperation von tanznetz mit dem Masterstudiengang Tanzwissenschaft des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz (ZZT) an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und dem nrw landesbuero tanz.
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