„Romantic Evolution/s“: „La Sylphide“ von August Bournonville, Tanz: Ida Praetorius, Matias Oberlin

„Romantic Evolution/s“: „Äther“ von Aleix Martínez, Tanz: Xue Lin, Jack Bruce, Ensemble

Magie des Nichtfassbaren

„Romantic Evolution/s“ beim Hamburg Ballett

Es ist ein Wagnis, Bournonvilles „La Sylphide“ mit der brandneuen Kreation „Äther“ von Aleix Martínez zusammenzuspannen. Aber gerade dadurch wird der Abend zu einer kleinen Sensation.

Hamburg, 09/12/2025

Es war die erste „richtige“ Premiere unter der neuen Direktion des Hamburg Balletts, und sie war mit Spannung erwartet worden. Lloyd Riggins, ein Zögling des Königlich-Dänischen Balletts und deshalb mit den Werken von August Bournonville bestens vertraut, hatte sich dafür eines der ältesten Ballette der Tanzgeschichte ausgesucht: dessen „La Sylphide“. Es erzählt die Geschichte von James, dem Schotten, der einem Luftgeist verfällt, anstatt seine Verlobte zu ehelichen, und der damit sowohl diese Sylphide als auch sich selbst ins Verderben stürzt. Man durfte sich mit Fug und Recht fragen, warum ausgerechnet dieses 200 Jahre alte Werk den Neubeginn der Hamburger Kompanie einläuten sollte. 

Die Antwort liegt im Kontrast zwischen eben diesem ewigen Klassiker der Romantik und dem bei Aleix Martínez neu beauftragten Werk, an einem Abend unter dem Obertitel „Romantic Evolution/s“ zusammengefasst. Riggins‘ Vorgabe für die neue Kreation ließ viel Spielraum: Martínez sollte eine „zeitgemäße Antwort“ auf „La Sylphide“ finden, „die thematischen Fäden aufnehmen und daraus ein eigenes Werk weben“, so geht es aus dem Programmheft hervor. Gleichzeitig gibt Riggins seiner Kompanie Gelegenheit, die anspruchsvolle Bournonville-Technik mitsamt der dazugehörigen Pantomime zu erlernen, noch dazu unter höchst kompetenter Anleitung: Frank Andersen und Eva Kloborg waren mit ihrem Team eigens aus Kopenhagen angereist, um das Stück einzustudieren. 

Technische Herausforderung

Die Besonderheit dieser Technik liegt in den vielen kleinen und großen Sprüngen sowie in den schnellen, raffinierten Fußbewegungen in Kombination mit einer höchste Eleganz und Präzision erfordernden Körperhaltung, sowohl in den Soli als auch in den Ensemble-Partien. Bei der Premiere am 7. Dezember 2025 glückte da noch nicht alles, wobei man gerade bei der Dänin Ida Praetorius, die die Sylphide tanzte, mehr Eleganz und Delikatesse erwartet hätte. Sie bleibt indifferent, wo sie überzeugen müsste. Auch Matias Oberlin als James ließ die sonst gewohnte Brillanz stellenweise vermissen – vor allem in seinem Solo im 2. Akt. Man darf gespannt sein, auf die zweite und dritte Besetzung mit Futaba Ishizaki bzw. Olivia Betteridge als Sylphide und Louis Musin als James, die in einer Ballettwerkstatt Mitte November Ausschnitte aus ihrem Können gezeigt hatten. 

Nicht auf der Höhe war auch das Philharmonische Staatsorchester unter Markus Lehtinen, es intonierte die Musik von Herman Loevenskjold eher lustlos und musikalisch-rhythmisch nicht immer sauber. 

Dafür glänzte Francesco Cortese als Gurn, der dem mit der Sylphide beschäftigten James die Braut ausspannt, und ebenso war Louis Haslach eine hinreißend diabolische Hexe Madge, die dem unglücklichen James die Katastrophe aus der Hand liest und ihm in einem grün leuchtenden Topf den verhängnisvollen Schal zusammenbraut, mit dem er die Sylphide an sich bindet und ihr damit jedoch den Tod bringt. Denn Luftgeister kann und darf man nicht fesseln und besitzen...

„Wir sind alle James“

Nach so viel Romantik war die Spannung in der ausverkauften Staatsoper mit Händen zu greifen. Was würde Aleix Martínez diesem Klassiker entgegensetzen? Er hatte sich, wie er mir in einem Gespräch drei Tage vor der Vorstellung erzählte, dem Thema mit einer ausgiebigen Recherche genähert und dabei festgestellt, dass der Begriff der Sylphen als Geister der Luft erstmals bei dem Heilkundigen Paracelsus Anfang des 16. Jahrhunderts auftaucht. Daraus leitete er die Frage ab: Was bedeutet das für die Gegenwart? Was verbindet sich mit diesem Begriff für uns heute?

Die Antwort findet er in der Natur und in dem, was der Mensch mit ihr macht: „Die Sylphe ist ein Element der Natur, das heute zu sterben scheint, weil es verbraucht wird. Man kann es nicht sehen, nicht greifen, nicht festhalten. Es ist ein Licht, ein Wunsch, eine Bewegung, eine Ahnung, die man nur fühlen kann. Es steht im Gegensatz zu unserer Welt heute, die so sehr auf Haben und Festhalten ausgerichtet ist, auf das Anfassbare, Materielle. Die immer nur mehr will – mehr, mehr, mehr. Aber mehr wofür? Natur kann man nicht besitzen, die Sylphe auch nicht. James weiß das nicht, er lässt alles hinter sich, damit er sie besitzen kann. Irgendwo sind wir heute alle James.“ 

Zu dieser Welt der Luftwesen könne man nicht mit dem Verstand kommen, sondern nur über Meditation: „Der einzige Weg, sich damit zu verbinden, verläuft über die Ruhe, die Stille, das Loslassen, die Hingabe. Wenn wir das Luftelement bewahren wollen, müssen wir es in seiner Flüchtigkeit respektieren und uns seine Kostbarkeit bewusst machen. Vielleicht ist das die Lektion, die wir lernen können.“ Die Magie des Nichtfassbaren zu erkennen und zu respektieren – das ist die Essenz von „Äther“. 

Das Leid der Erdenwanderer

Und so beginnt das Stück in der Stille – mit einem Mann, der eine Art Mistgabel aus Holz in Zeitlupe über die Bühne zieht, während am rechten Bühnenrand ein Paar Herrenschuhe zu rauchen beginnt. Als der Pausenvorhang mit dem alchemistischen Symbol für Äther sich hebt, werden sanfte Windgeräusche hörbar. Ein Kind geht langsam über die Bühne, einen Lichtkasten mit grünen Gewächsen auf dem Rücken – Symbol der gefährdeten Erde. 

Schwebend zart erklingt aus dem Graben der Gesang der Violine aus dem Konzert für Violine und Streichorchester des zeitgenössischen lettischen Komponisten Peteris Vasks (der es sich nicht hat nehmen lassen, selbst zur Premiere zu kommen), berückend gespielt von Anton Barakhovsky als Gast. Aus dem Nichts taucht ein hell gekleidetes Wesen auf, das einem Derwisch ähnlich unablässig über die Bühne kreiselt (grandios: Ida Stempelmann). „Der Derwisch ist für mich die Idee von der Verbindung zwischen Kosmos und Welt,“ sagt Aleix Martínez, „dieses ständige Drehen erinnert an die Natur der Atome und das Universum. Es ist ja alles immer in Bewegung, alles dreht sich, ständig. In der Außenwelt ebenso wie im Inneren, im Großen wie im Kleinen, im Makro- wie im Mikrokosmos.“

Und dann entfaltet sich über eine knappe Stunde hinweg ein bewegendes Szenario für Luftwesen und Erdenwanderer mit einem James im Mittelpunkt als gequälter Kreatur (hervorragend: Jack Bruce), die ob der Katastrophen auf dieser Welt zu verzweifeln droht und der die Luftgeister doch immer wieder Trost und Zuflucht spenden. 

Rechts oben in die ansonsten dunkle Rückwand hat Aleix Martínez, der auch für das Bühnenbild und Licht verantwortlich zeichnet, ein fensterähnliches Quadrat geschnitten, in dem mal ein Sylphenwesen erscheint, mal ein Auge in Großaufnahme sowie Bilder aus der Natur und deren Zerstörung durch Menschenhand: Brandung und Brände, Industriemoloche und Überschwemmungen, Kriegsereignisse. Dort bleibt James auch zum Schluss stehen, mit dem Rücken zum Publikum, in eine ungewisse Zukunft schauend. 

Für die ebenso schönen wie für den Tanz maßgeschneiderten Kostüme zeichnet Lennart Radtke verantwortlich – ausgebildet als Tänzer an der Ballettschule des Hamburg Ballett, dort acht Jahre als Gruppentänzer tätig, bevor er zu Les Ballets de Monte Carlo wechselte und dort erst im Sommer dieses Jahres seine Karriere beendete, um sich ganz der Schneiderei zu widmen. Dieses Kostümbild ist sein erstes – absolut gelungenes – Werk für die Bühne. 

Geglücktes Wagnis

An das Ende hat Martínez ein melancholisch-sehnsüchtiges Lied gestellt: „My Heart’s in the Highlands“ von Arvo Pärt, wunderbar gesungen von Ida Aldrian. Darauf hat er einen zutiefst berührenden Pas de Deux choreografiert für die hingebungsvoll tanzenden Hayley Page und Florian Pohl, während der Lehnstuhl, in dem James immer wieder mal saß, und der die Heimat der Menschen zu symbolisieren scheint, zu brennen beginnt. 

Dafür sowie für das gesamte Stück findet Martínez eine ganz eigene, höchst expressive Bewegungssprache, in die sich das gesamte Ensemble voller Verve hineinstürzt – da ist er wieder, dieser Hamburger Spirit, diese Hingabe, die Konzentration auf das Wesentliche, den Ausdruck, die Darstellung. Alle geben alles ­– und treffen damit mitten ins Herz des Publikums, das manchmal schier das Atmen vergisst, so still ist es immer wieder im Raum. 

Als sich am Ende der Vorhang wieder hebt, bricht ein Beifallssturm los, wie ihn die Hamburgische Staatsoper selten erlebt hat. Und als Aleix Martínez auf die Bühne kommt, erheben sich alle spontan zu Standing Ovations. „Aleix hat uns mit diesem Stück das Fenster in die Zukunft geöffnet“, sagt Lloyd Riggins bei der Premierenfeier, zu der dieses Mal alle Zuschauer*innen eingeladen waren. Eine Zukunft, in der das kostbare Erbe der Neumeier-Stücke sich paaren kann mit dem, was die besondere Qualität dieses wunderbaren Ensembles auf andere Weise fordert. 

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