Choreografie als organischer Prozess

Lloyd Riggins über „Tod in Venedig“, über Bournonville und die Persönlichkeiten, die ihn geprägt haben

Wien, 19/02/2009

Lloyd Riggins zählt zu den charismatischen Solisten des Hamburg Balletts. Vor einem Gastspiel des Hamburg Balletts mit John Neumeiers „Tod in Venedig“ in Wien sprach Andrea Amort mit ihm über Bournonville, über seine Rollen in John Neumeiers Balletten und über das diesjährige Ballets-Russes-Jubiläum.

Sie vereinen in Ihrer Ausbildung ja unterschiedliche Facetten maßgeblicher Tänzerausbildung: Aufgewachsen in den USA, ausgebildet u. a. bei dem großen Dänen Kronstam und nunmehr seit vielen Jahren in Hamburg. Wie würden Sie Ihre Tänzer-Formung heute bezeichnen, woraus setzt sie sich zusammen. Wer oder was hat Sie am meisten geprägt?

Lloyd Riggins: Vier Persönlichkeiten haben mich entscheidend geprägt: Zuerst war da meine Mutter Barbara, in deren Schule und Kompanie ich meine ersten Erfahrungen gesammelt habe. Sie hat mir das Wichtigste überhaupt beigebracht: zu lernen, mich immer weiter zu entwickeln. In Florida, wo ich herkomme, gibt es keine dominante Schule in der Tanzausbildung. Es werden unterschiedliche Facetten des Tanzes, unterschiedliche Stile vermittelt, sodass man als Tänzer sehr flexibel wird – was einem im Berufsleben dann häufig zu Gute kommt. Ich habe das alles aufgesogen, mich überall probiert. Die zweite bedeutende Persönlichkeit war tatsächlich Henning Kronstam, der am Königlich Dänischen Ballett in Kopenhagen mein Mentor war. Er gehört zu dieser leider langsam aussterbenden Gattung Tänzer: Ein Theater-Mensch, der einen Prinzen nicht nur hervorragend tanzt, sondern auch schauspielerisch darstellt. Meine Ausbildung als darstellender Tänzer habe ich bei ihm in meiner Zeit in Kopenhagen vollendet. Die beiden Personen, die mich bis in jüngste Zeit als Tänzer geprägt haben, sind Kevin Haigen und natürlich John Neumeier. John hat mir ganz neue Möglichkeiten als Tänzer aufgezeigt, mich zu neuen Herausforderungen geführt – Kevin hat mir geholfen diese Visionen in Tanz umzusetzen.

Welchen Stellenwert hat in Ihrer Tänzerkarriere das choreografische Erbe von Bournonville?

Lloyd Riggins: Das ist eine komplexe Frage! Ich denke, dass es ein wichtiges Erbe ist, das bewahrt und wert geschätzt werden muss. Es ist jedoch auch ein schwieriges Erbe und seine Bewahrung kann nicht darin liegen, dass die Tradition konserviert wird und wir die Produktionen, wie sie seit dem 19. Jahrhundert aufgeführt werden, immer neu variieren und ergänzen. Vielmehr sollten wir uns kontinuierlich aus der Gegenwart heraus mit dem Kern von Bournonvilles Choreografien auseinandersetzen – so wie ich es in meiner Fassung von „Kirmes in Brügge“ 2005 versucht habe.

Mein Ziel war es, die überflüssigen Lagen dieses Balletts von 1851 zu entfernen. Sie stammten zum Teil aus späteren Zeiten und stellen gar nicht Bournonvilles ursprüngliche Ideen dar. Ich wollte die choreografische Quintessenz seines Werks herausstellen. Meine reduzierte Version wurde nicht überall gut aufgenommen, da viele die Tradition Bournonvilles, seinen Stil, wie er über Jahrzehnte lang auf der Bühne weiterentwickelt worden war, verraten sahen. Ich glaube jedoch, wir haben heute die Verpflichtung, einen Blick aus dem Jetzt auch auf diese historischen Werke zu werfen. Sonst bleiben sie nur museale Ballettgeschichte auf unseren Theaterbühnen. Um ein Erbe wirklich zu bewahren, muss man sich künstlerisch damit auseinandersetzen und neue Wege gehen und Altes, möglicherweise Falsches, hinterfragen. Viel davon habe ich von John Neumeier gelernt, der als lebender Choreograf jeden Tag jeden seiner choreografierten Schritte sieht, sie hinterfragt und sie gegebenenfalls verändert – weil er sie neu wahrgenommen hat.

Sie sind seit vielen Jahren Erster Solist in John Neumeiers Hamburg Ballett. Was hat Sie bewogen, nach Ihrem Engagement beim Königlichen Dänischen Ballett, sich dem Hamburg Ballett anzuschließen?

Lloyd Riggins: Es war nicht von Beginn an eine bewusste Entscheidung, sondern hat sich vielmehr so ergeben. In Kopenhagen gab es einen Wechsel in der künstlerischen Leitung und meine Frau Niurka Moredo, die dort ebenfalls tanzte, und ich wurden zunehmend unzufrieden. Wir hatten John Neumeier bereits in Kopenhagen kennen und schätzen gelernt. Als sich die Gelegenheit bot, nach Hamburg zu gehen, nutzen wir sie sofort. Unser Leben veränderte sich dadurch natürlich vollständig, aber das war gut. Rückblickend kann ich für mich persönlich sagen, dass auch die Jahre in Kopenhagen noch zu meiner Ausbildung gehörten – als Universitätsstudium sozusagen. Ich habe sehr viel gelernt, beispielsweise über historisches Ballett und über das darstellerische Handwerk. Doch wirklich als Tänzer arbeite ich und verwirkliche ich mich erst, seitdem ich in Hamburg bin.

Wie würden Sie Ihre langjährige Zusammenarbeit mit dem Choreografen Neumeier beschreiben? Was zeichnet ihn aus, was fasziniert Sie?

Lloyd Riggins: John Neumeier betrachtet seine Kompanie als eine Palette, mit deren Hilfe er seine Choreografien erschafft, „malt“. Jeder Tänzer stellt eine oder mehre Farben dar, mit denen er seine Ballette auf der Leinwand der Bühne entstehen lässt. Es ist ein großes Geschenk und eine Ehre für mich, mit ihm Rollen kreieren zu dürfen. Er ist ein Choreograf, der unbedingtes Vertrauen in sein „Material“ hat. Er sieht in uns Tänzern oft mehr, als wir selbst vermuten. So können wir unser ganzes Potenzial entdecken und ausschöpfen. Seine große Begabung ist es, dass er uns dazu bringt, an uns selbst zu glauben, sodass wir das erreichen, was er in uns sieht. Das ist eine faszinierende Fähigkeit.

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit bei der Choreografie „Tod in Venedig“? In wie weit haben Sie sich mit der literarischen Vorlage von Thomas Mann und eventuell auch mit der berühmten Verfilmung von Luchino Visconti befasst?

Lloyd Riggins: John Neumeier ist für uns alle ein Vorbild: Er gibt gewissermaßen das Tempo vor, wir Tänzer versuchen damit Schritt zu halten – nicht nur was den Tanz betrifft, auch intellektuell. Ich habe mich wie er intensiv mit der Textvorlage auseinandergesetzt und zur Persönlichkeit Thomas Manns recherchiert. Seine Nobelpreis-Rede gab mir zum Beispiel wichtige Einblicke in sein Seelenleben, die ich in der Figur umgesetzt habe. Die Zusammenarbeit mit John in „Tod in Venedig“ stellt für mich einen Höhepunkt dar: In der Kreationsphase haben wir einander vollständig verstanden, ohne zu reden. Dafür ist die intensive intellektuelle Vorbereitung eine unerlässliche Grundlage: Auch ich versuche, mich so gut wie möglich vorzubereiten. Der Film gehörte jedoch für uns beide bewusst nicht dazu. Es ist ein anderes Medium, das die Interpretation eines Individuums von Manns Text darstellt und damit Informationen aus zweiter Hand. Für uns waren einzig der Text und die Person Thomas Mann ausschlaggebend.

Konnten Sie sich in der Gestaltung des Gustav von Aschenbach, wie ihn Neumeier zeigt, als großen Choreografen, einbringen oder hat John Neumeier die Form dieser Persönlichkeit weitgehend vorgegeben? +

Lloyd Riggins: Die Kreation mit John Neumeier findet immer als Dialog im Ballettsaal statt. Wir kamen zwar beide mit unserem Text-Wissen ins Studio, ließen es jedoch gleichzeitig vor der Tür. John bereitet sich sehr detailliert vor, doch am Anfang einer Kreation arbeitet er nur mit Tanz, stellt all sein Wissen in den Hintergrund. Er beginnt oft mit körperlicher Improvisation, aus der Musik heraus. Dann beginne auch ich zu tanzen und er formt mich. Wir entwickeln etwas im gegenseitigen Austausch weiter, manchmal fangen wir wieder von vorne an. Später erst werden dann Thema, Handlung und Inhalt für die Choreografie wichtig. Es ist ein organischer Prozess. Anders als „Nijinsky“ beispielsweise ist „Tod in Venedig“ auch ein Ballett, das sich nach seiner Premiere kontinuierlich verändert. Wir hatten vor der Hamburg-Premiere drei Vorstellungen als Previews in Baden-Baden, von der war keine wie die vorangegangene. Bis heute verändert das Ballett seine Form bei jeder Vorstellung, wenngleich es natürlich inzwischen nur Kleinigkeiten sind, an denen John feilt.

Sie sind mit Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem für Ihre Interpretation der „Bernstein Dances“ als auch des Petruschka in Neumeiers „Nijinsky“. Zwei sehr gegensätzliche Rollen. Können Sie sie kurz beschreiben und was Ihnen daran wichtig ist?

Lloyd Riggins: „Bernstein Dances“ war eine großartige Kreation für mich, eine der ersten großen in Hamburg. Zudem hat diese Rolle sehr viel Spaß gemacht! Als Amerikaner hat Bernstein für mich natürlich eine besondere Bedeutung – seine „West Side Story“ höre ich seit meiner Kindheit – und ich war sehr stolz, ihn verkörpern zu dürfen. Ich habe ihn ja nicht einfach dargestellt. John und ich haben versucht, seinem Wesen nachzuspüren – dem, was ihn als Künstler und Person antrieb. Diese Rolle war voller Energie, ich habe sie sehr gern getanzt. Was Petruschka betrifft: Ich fühlte mich geehrt, diese Kreation Nijinskys in Johns Ballett verkörpern zu dürfen. Die Rolle ist ein Juwel in der Geschichte des Tanzes. Ihre besondere Herausforderung liegt dabei darin, in einem Bruchteil den Blick des Publikums von Nijinskys äußerer Erscheinung, gewissermaßen seiner historischen Hülle – dem Bild, das das Publikum von ihm geschaffen hat – auf sein inneres Wesen als Künstler zu lenken – und das dazu auf unterschiedlichen Zeitebenen. Dass mir dies gelingt, ist eine besondere Erfüllung für mich.

Eine Sonderstellung könnte „Die Kameliendame“ einnehmen, sie interpretierten immerhin drei verschiedene Partien in einem der schönsten Werke von Neumeier?

Lloyd Riggins: „Die Kameliendame“ ist für mich einer der Klassiker unter John Neumeiers Choreografien. Ich habe zwar auch Gaston Rieux und Monsieur Duval getanzt, doch Armand ist die einzige wirklich bedeutsame Rolle für mich. Ich bin über einen langen Zeitraum immer wieder zu ihr zurückgekehrt und konnte daran meine Entwicklung ablesen, mich immer wieder beobachten und an mir arbeiten. So bin ich durch Armand als Tänzer gereift. Ich habe mit fünf unterschiedlichen Tänzerinnen als Marguerite getanzt, die mich jede auf ihre Art bereichert haben. Insbesondere die Zusammenarbeit mit Anna Polikarpova war mir eine große Inspiration. In den übrigen Rollen, als Gaston und Vater Duval, fand ich mich, ehrlich gesagt, im Vergleich nicht besonders gut.

Im Ballets-Russes-Jahr 2009 werden Sie sicherlich auch bei den Ballett-Tagen im Juli mehrere Rollen tanzen. Bedeuten die Werke dieser Ära einem so wandlungsfähigen Tänzer wie Ihnen etwas Besonderes, Wesentliches?

Lloyd Riggins: Die Ballets Russes bedeuten jedem Tänzer viel: Mit ihnen wird das moderne Ballett geboren, sie stellen einen Wendepunkt in der Geschichte des Tanzes dar. Ohne sie gäbe es viele Stile, die für mich als tänzerische Herausforderung so wichtig sind, heute möglicherweise gar nicht. Es ist gut, dass zu einem solchen Jubiläum die Bedeutung der revolutionären Errungenschaften der Ballets Russes, die inzwischen vielerorts selbstverständlich geworden sind und gelegentlich gar in Vergessenheit geraten, wieder ins Bewusstsein kommen. Es wird mir eine Ehre sein, dieser legendären Kompanie in Hamburg tänzerisch zu gedenken.

Gibt es eine Lieblingsrolle, die Sie gerne Ihrem großen Repertoire noch hinzufügen möchten?

Lloyd Riggins: Ich habe eigentlich alles getanzt, wovon ich geträumt habe und was das Repertoire hergibt. Als John Neumeier für die Nijinsky-Gala 2008 seine Rolle in „Die Stühle“ von Maurice Béjart vorbereitete, dachte ich eine Zeit lang, dies könnte eine letzte Herausforderung sein. Ich hatte diese legendäre Choreografie selbst nie gesehen, kannte sie nur aus Erzählungen. Als ich John dann jedoch darin sah, wurde mir sofort klar, dass ich sie nicht tanzen möchte – sie gehört nur ihm. Meine Lieblingsrolle ist inzwischen die des Lehrers und Coaches.

Haben Sie auch choreografische Ambitionen?

Lloyd Riggins: Zu Beginn meiner Karriere habe ich mich einige Male als Choreograf versucht, aber nie eine wirkliche Erfüllung gefunden. Als Choreograf braucht man große Leidenschaft für die Kreation. Meine Leidenschaft – neben dem Tanzen – ist es, meine Rollen, mein Repertoire, an andere weiterzugeben und Tänzer weiterzuentwickeln. Darin sehe ich meine Berufung. 

 

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