„Odyssee in C“: Ballett Chemnitz & Company Chameleon

Chemnitz in 18 Stationen

„Odyssee in C“ führt durch den Chemnitzer Stadtraum

Tanz von 8 bis 23 Uhr. Chemnitz feiert Kulturhauptstadtjahr und das internationale Festival „TANZ | MODERNE | TANZ“. Dazu lädt das Ballett Chemnitz zum Stadtparcours und Tanzmarathon. Das funktioniert dank vieler Gäste bestens.

Chemnitz, 27/06/2025

Eine Collage von Torben Ibs und Rico Stehfest

 

Es ist ein Mammutprojekt, das sich die Chemnitzer Ballettdirektorin Sabrina Sadowska ausgedacht hat. „Odyssee in C“ führt von 8 bis 23 Uhr in 18 Stationen durch den Chemnitzer Stadtraum. Zehn Companies aus sechs Ländern sind beteiligt, darunter auch das Chemnitzer Ballett, das hier und da sogar zusammen mit den Gästen des Festivals „TANZ | MODERNE | TANZ“ auftritt. Wir waren dabei und haben uns die Füße wundgelaufen.

Odysseus oder Ulysses

„Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen“, so beginnt James Joyce „Ulysses“, und stattlich ist auch das Chemnitzer Projekt, wobei feist jetzt nicht das Erste ist, das einem zum Tanz einfällt. Immer wieder verweist Gastgeberin Sabrina Sadowska, Festivalleiterin und Chefin des Chemnitzer Balletts an den einzelnen Stationen auf den Bloomsday, den 16. Juni 1904 in Dublin, den Joyce in seinem Jahrhundertroman Revue passieren lässt. Darin schickt er Leopold Bloom auf eine 988 Seiten (deutsche Suhrkamp Taschenbuchausgabe) lange Reise des Tages in die Nacht. Doch verweist Ulysses natürlich auch auf die Odyssee von Homer, in der Odysseus nach dem Ende des trojanischen Krieges zehn Jahre lang Abenteuer bestehen muss – mit den Sirenen, der schwierigen Passage von Skylla und Charybdis, im Kampf mit dem Zyklopen oder als Ehemann der Königin Circe, die seine Männer in Schweine verwandelt. Die 18 Stationen, von denen vier im Opernhaus stattfinden, tragen allesamt Titel der antiken Odyssee. Moderne und Antike treffen sich hier also im Tanz.

Besuch „Kultur-Fremder“

11 Uhr. Das Publikum hat sich schon warmgelaufen. Nicht wenige sind wirklich schon seit 8 Uhr dabei. Bereits jetzt sind es fast 100 Leute. Und später werden es immer mehr. Am Uferstrand, Cie. L'Acacdco aus Jamaika. Sehnsuchtsvolle Töne, großen Muscheln entlockt. Die weißen Röcke flattern leise in der angenehmen Brise. Noch ist es nicht brüllend heiß. Noch. Wir stehen vor einem größeren Wohngebäude. Rund um die kulturelle „Insel“ der Performance geht alles seinen alltäglichen Gang: Handwerker bahnen sich ihren Weg durch das Publikum. Lieferfahrzeuge müssen jetzt eben mal warten. Urlaubsfeeling mit leichtem Schmunzeln. Die Medienaufmerksamkeit ist hoch. Gut so. 

Marx’ Kopfgeburt

Ein Event im öffentlichen Raum, das geht natürlich nicht ohne eine Station vor dem Karl-Marx-Kopf, dem Nischel, dem berühmtesten Kunstwerk, das Chemnitz produziert hat (Sorry, Karl Schmidt-Rottluff!). Hier darf die Company Chameleon aus Manchester im Kapitel „Kylop“ auftreten. Die Stadt kämpft ebenso wie Chemnitz mit dem Werteverfall einer ehemaligen Industrieregion, und so mag es wenig verwunderlich sein, dass die vier Tänzer*innen eine dreckige Gang-Nummer aufführen. Eine Baba drangsaliert erst ihre eigenen Leute, die teilweise äußerst hündisch agieren, was eine ganz eigene Energie hat, und macht dann den kleinen Mann mit der Aktentasche kalt. Präzisionstanz mit akrobatischen Einlagen auf offener Straße. Das Proletariat, das hinter dem Marx-Kopf grüßt, schlägt zurück. Am Ende ohne Pointe, aber eine beeindruckende Körperperformance mit Sprüngen aus dem Stand und gar erstaunlichen Wurftechniken. Ein starkes Stück. Von den mehr als 100 Besuchern müssen die meisten in der prallen Sonne ausharren. Schatten: Mangelware. Festivals sind eben anstrengend. Die Ironie will, dass gerade diese Aspekte die Festival-Stimmung anheben.

Böden

Granitplatten, Asphalt, Metallgitter, Seile, Gras, Pflastersteine, weißer Bühnentanzboden, eine hauchdünne, schwarze Gummimatte (dank der mittäglichen Sonne für nackte Füße unerträglich temperiert)

Der Zufall als Choreograf

Ganz alleine bewegt sie sich über den Platz, die Tänzerin der Cie. Act 2 von Catherine Dreyfus aus Frankreich. „Die Sirenen“ heißt der Part, der zwischen Jakobikirche und Rathaus gegeben wird. Stille, ein Platz, besinnlicher Start. Doch nicht um 16 Uhr in Chemnitz! Denn dann startet das Figürliche Glockenspiel, bei dem sich sechs Figuren zu Glockenmusik am Rathaus drehen. So klingelt hier eine Version von „Die Gedanken sind frei“ leichtfüßig durch die Luft, während sich drei weitere Tänzer*innen mit glitzerndem Make-Up zu der Einsamen hinzugesellen. Registerwechsel: Jetzt tönt besinnlich-donnernde Orgelmusik über den Platz, aus aufgestellten Boxen, zusätzlich zu den Glocken. Und es funktioniert, genau wie die Idee, das Publikum am Ende zum Mittanzen zu bewegen. Dann allerdings ohne Glockenspiel.

Das Publikum

Alle 18 Stationen, das schafft niemand. Dabei liegt es nicht am Willen oder der fehlenden Motivation, sondern ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass morgens drei Stationen parallel stattfinden. Es braucht also mindestens den zweiten Tag, um alles zu sehen und die Stempelkarte zur Odyssee vollzukriegen. Denn das Theater Chemnitz hat extra für die Produktion ein kleines Heft drucken lassen, für das man sich beim Volunteer im türkisfarbenen T-Shirt vor Ort einen Stempel abholen kann – wer mindestens fünf solcher Stempel hat, bekommt in der nächsten Saison 5 Prozent auf ein Ballettkarte. Und hier gilt: Mehr ist mehr. Bis 25 Prozent Rabatt sind machbar. Aber auch ohne diesen Anreiz ist der Publikumszuspruch sehr gut. Es gibt viele treue Begeisterte, die – meist mit Fahrädern – neugierig von Station zu Station radeln. An einer Schule lassen sich ein paar Grundschüler*innen begeistern. Nicht nur vom Tanz, sondern auch von der Akrobatik, die viele der am Straßentheater geschulten Companys im Gepäck haben: Jonglage, Reifenspiel und Kletterakrobatik sind an den verschiednen Plätzen am Start. Immer wieder bleiben Passant*innen stehen, und natürlich auch Zufallsbegegnungen mit Fahrradfahrenden, die durchs Bild rollen, bereichern die Atmosphäre.

Zwischendurch

Im Museum für Archäologie ist es herrlich kühl. Will ich wirklich da raus, in den glühend heißen Innenhof und in der Mittags-Sonne die Performance sehen? Oder doch lieber den richtig guten Kaffee in der Kühle genießen? Kompromiss: Coffee to go. Später ein Eis. Und die Füße kurz abgekühlt, im Wasserbecken an der Stadthalle. Weiter geht's. Vor der Oper, auf der Open-Air-Bühne, Musik. Frank Sinatra?! Eine Probe? Die Stadt macht mit. 

Regen

Nicht alles lässt sich planen oder inszenieren. Der Zufall ist immer dabei, manchmal noch besser als jeder Plan. Am Schillerteich zieht sich plötzlich die Sonne hinter schwarze Wolken zurück. Wind kommt auf. Erste, leichte Regentropfen. Stoisches Ausharren. Neugier. Begeisterung. Plötzlich lautes Grollen, bedrohlich. Hier braut sich was zusammen. Nur ist unklar: Kommt das jetzt aus den Boxen oder von oben? Alles passt zusammen, die Atmosphäre ist unbeschreiblich. Himmel und Park werden zur finsteren Kulisse für ein genauso gestaltetes Duo. Schließlich müssen die Performer von Catherine Dreyfus leider abbrechen. Die Regentropfen sind inzwischen gefühlt golfballgroß, der Rasen glitschig. Das geht so leider nicht. Nur wenige Minuten später scheint zwar wieder die Sonne, aber jetzt ist die Wiese zu nass. Die nächste Performance muss deshalb leider abgesagt werden. Auch diese Unwägbarkeiten gehören zu einem Festival.   

Foyergespräche

Wer von den fleißigen Ballettgängern weiß denn schon, dass sich die Tänzerinnen die Ränder der vorderen Enden ihrer Spitzenschuhe mit individuellen Stickereien versehen? Und nein, das ist kein Zierrat. Das wäre übertrieben, schließlich zertanzt eine jede pro Saison mindestens 20 Paar davon. Die Stickereien dienen vielmehr der Stabilisierung und einem besseren Halt. Davon kann man im 15. Kapitel erfahren, im Foyer des Opernhauses. Dann kommen die Tänzerinnen des Ensembles zum Publikum an die kleinen Kaffeehaustische, sticken und plaudern. Nach diesem Marathon glühen die Füße. Als hätte man selbst auf Spitze getanzt. 

Das Finale

Odysseus kehrt heim und trifft auf eine Meute Herren, die seine Frau Penelope freien wollen, um König anstelle des Königs zu werden. Zusammen mit der Company Chameleon inszeniert Sabrina Sadowska das große Finale im Opernhaus, der einzige Teil des Spektakels, der Eintritt kostet. Die Herren geben eine gepflegt raufende Menge in schicken Anzügen, während Penelope sich mit ihrem weiblichen Gefolge in den ewigen Trauermodus mit schwarzen Schleiern hinter einen weißen Vorhang zurückgezogen hat. Sadowska erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Penelope, der Königin. Sie baut klare Bilder mit ihrer Company, setzt Stimmungen und lässt sie ausleben. Da fliegen am Ende sogar die Ballettschuhe. Der Hofstaat begehrt auf, freundlich aber bestimmt. Das Leben ist kein Kloster.
Im Gegensatz dazu kommen die beiden Mitglieder der Company Chameleon, die auch schom beim Marx-Kopf zu bewundern waren, geradezu linkisch daher, besonders der Darsteller des treuen Dieners Eumaios, dessen grotesk eckiges Bewegungsrepertoire selbst zum Abschlussapplaus nicht abgelegt wird. Odysseus hingegen macht sich groß und stark, und die Szene, in der er mit einem Bogenschuss (hier übersetzt in einen Ballwurf) zeigt, wer Herr im Haus ist, gelingt gar beiläufig nach all dem Trubel der Buhler. Das große emotionale Finale schließlich ist das Zusammenkommen und Wiederfinden des sich verloren geglaubten Paares. Zögerlich, abtastend, vertrauend suchend und langsam findend, finden sie zueinander, ihre Tanzstile vereinend. Am Ende sitzt sie auf dem Stuhl, er sitzt zu ihren Füßen. „Non, je ne regrette rien“, klingt es aus den Boxen, und während im Hintergrund das Leben wieder Fahrt aufnimmt, verharren die Beiden regungslos. 

Auch Joyce endet passend zu diesem Bild: „[...] und das Herz ging ihm wie verrückt und ich hab ja gesagt ja ich will Ja.“ 

Zum Schluss-Applaus kommt Sabrina Sadowska ohne Schuhe auf die Bühne. Da braucht es keine weiteren Worte mehr. 

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