A Lesson for the Future
Looking back on a historic season of the Hamburg Ballet
Es war der Schlussbeifall, der ein klares Zeichen setzte beim ersten Premierenabend des Hamburg Ballett in dieser Spielzeit. Gegeben wurde die Wiederaufnahme von John Neumeiers „Die Möwe“ zu einer raffinierten Musikkollage mit Kompositionen vor allem von Dmitri Schostakowitsch. Nach den ersten Vorhängen für Kompanie und Orchester holte Hauptdarsteller Louis Musin, der den Kostja verkörperte, John Neumeier auf die Bühne. Und kaum war dieser zu sehen, steigerte sich der ohnehin schon sehr herzliche Beifall zu einem wahren Orkan, und das Publikum erhob sich spontan von den Sitzen. Lang anhaltende Standing Ovations also für den Choreografen und ehemaligen Intendanten des Hamburg Ballett und die gesamte Kompanie. Nach all den Zweifeln an der künstlerischen Weiterentwicklung des Ensembles und unterstellten Intrigen gegen den geschassten Demis Volpi war das ein klares und sehr eindeutiges Bekenntnis des Publikums zum Hamburg Ballett, zu John Neumeier und zu seinem Werk.
Dass das nichts mit Nostalgie und Vergangenheitsverklärung zu tun hat, machte „Die Möwe“ an diesem Premierenabend augenfällig. Denn Neumeiers Kreation aus 2002 (zuletzt 2017 zu sehen) zeigte ein weiteres Mal, wie neu, modern und anspruchsvoll seine Choreografie auch noch 23 Jahre nach der Uraufführung ist, in den Haupt- ebenso wie in den Nebenrollen. All denjenigen, die so gerne darauf verweisen, das Hamburg Ballett bräuchte nach 51 Jahren Neumeier jetzt endlich mal „was Neues“, müsste an diesem Abend klargeworden sein, dass „was Neues“ auch in Neumeiers Oeuvre immer wieder zu entdecken ist. Einmal mehr wurde hier deutlich, auf welchen choreografischen Schatz sich das Hamburg Ballett stützen kann – diesen zu bewahren und als festen und nicht zu kleinen Bestandteil im Repertoire zeigen zu wollen, ist nun wahrlich kein Sündenfall, sondern das künstlerische Kapital dieser Kompanie.
Ballett statt Schauspiel
In „Die Möwe“ lotet Neumeier Rebellion und Emanzipation aus, die Hauptthemen in Anton Tschechows Theaterstück, und das auf verschiedenen Ebenen: „Was bedeutet es, verliebt zu sein? Was bedeutet es, ein Künstler zu sein? Was bedeutet es, jemand zu sein, der in die Idee verliebt ist, Künstler zu sein?“ (Zitat aus dem Programmheft). Kostja ist bei Neumeier ein junger Choreograf, der gegen die klassischen Ballett-Traditionen seiner Mutter, der Primaballerina Arkadina, rebelliert, indem er ein hypermodernes Werk kreiert (zu Ausschnitten aus einer Komposition der Schlagzeugerin Evelyn Glennie aus dem Jahr 2000). Natürlich wird er dafür von seiner Mutter, deren Anerkennung er verzweifelt sucht, verspottet und als Künstler verlacht. Kostja ist verliebt in Nina, ein Mädchen vom Lande, das in seinem Ballett tanzt. Nina ist Kostja ebenso zugetan, erliegt aber den Verführungskünsten von Arkadinas Liebhaber, dem Ballettmeister Trigorin. Sie folgt ihm allein nach Moskau und tanzt in einem Revuetheater, das damals einen sehr viel höheren künstlerischen Stellenwert hat als heute. Sie bekommt ein Kind von Trigorin, das früh stirbt, Trigorin verliert das Interesse an ihr, und Nina kehrt kurz zu Kostja zurück, aber nur, um sich von ihm zu verabschieden. Denn sie hat erkannt, was ihre eigentliche Bestimmung ist, der sie unabhängig von Kostja folgen muss: Tänzerin sein. Damit emanzipiert sie sich von den üblichen Rollenzuschreibungen des 19. Jahrhunderts und geht ihren eigenen Weg.
Interessante Rollendebüts
Der Vergleich zwischen erster und zweiter Besetzung war dieses Mal besonders spannend, wurde das Stück doch in fast allen Rollen von neuen Ensemblemitgliedern einstudiert. Louis Musin legt seinen Kostja eher wild und ungebärdig an, ihm fehlt die seelenvolle Innerlichkeit, die der erst 21-jährige Caspar Sasse als zweite Besetzung so einzigartig zu vermitteln vermag. Ana Torrequebradas Nina ist ein erfrischend junges Mädchen, das im Verlauf der Handlung zu einer durch Höhen und Tiefen gegangenen jungen Frau heranreift, die weiß, was sie will. Diesen Prozess vermittelt Francesca Harvey noch glaubhafter und intensiver und tänzerisch nicht minder eindrücklich.
Anna Laudere gibt der exaltierten Arkadina die nötige Prise Überdrehtheit und Eleganz, während Ida Praetorius eher blass bleibt und gekünstelt wirkt. Matias Oberlins Trigorin strahlt zwar durchaus männliche Energie aus, aber es fehlt ihm noch das gewisse Etwas, der Eros, dem eine Nina willenlos erliegen kann. Das gilt noch mehr für Daniele Bonelli, dem man in seiner Harmlosigkeit den Verführer schon gar nicht abnimmt. Hayley Page brilliert ebenso wie Ida Stempelmann als Frau des Gutsverwalters Sorin (zuverlässig wie immer: Alexandre Riabko, eher unscheinbar und wenig glaubwürdig: Louis Haslach). Xue Lin ist eine bewegend melancholische Mascha, während Charlotte Larzelere die Rolle eher als wütend-enttäuschte Frau anlegt, die nicht bekommt, was sie ersehnt. Olivia Betteridge pfeffert mit Daniele Bonelli ebenso wie Greta Jörgens mit Gabriel Barbosa großartige Revueszenen aufs Parkett.
Das Philharmonische Staatsorchester unter Nathan Brock lieferte jeweils eine Glanzleistung ab – selten hat man diese nicht gerade einfache Musik von Schostakowitsch so lustvoll gespielt gehört.
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