„Giselle“ von John Neumeier, Tanz: Sasha Trusch als Albrecht, Alina Cojocaru als Giselle

„Ich will die Dinge in der Tiefe erfassen“

Ein Gespräch mit dem Tänzer Alexandr Trusch

Aufgewachsen in der Ukraine hat er beim Hamburg Ballett eine rasante Karriere hingelegt. Was hat ihn zu diesem Ausnahmekünstler werden lassen? Wie schaut er auf den Tanz heute?

Hamburg, 26/01/2025

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Seit vielen Jahren ist Alexandr Trusch, den alle nur Sasha nennen, eine sichere „Bank“ unter den Hamburger Ersten Solisten. Kaum, dass er mal einen Auftritt abgesagt hätte, keine Aufgabe, der er sich je verweigert hätte. In den ganz großen und ebenso in den Nebenrollen brilliert er mit exzellenter Technik, enormer Ausdrucksstärke und vor allem mit einer Bühnenpräsenz und Wandlungsfähigkeit, wie sie nur sehr wenigen Tänzern eigen ist. 

1989 in Dnjepropetrowsk in der Ukraine geboren, erhielt er drei Jahre lang Unterricht im Volkstanz, bevor er 2001 mit seinen Eltern nach Deutschland kam. Die Ballettschule des Hamburg Ballett absolvierte er in der Hälfte der sonst üblichen Zeit. 2007 wurde er Mitglied des Ensembles, 2010 avancierte er zum Solisten, 2014 zum Ersten Solisten. Bis heute blieb er der Kompanie treu. 

Sein Repertoire ist weit gespannt. Es gibt nichts, was er nicht tanzen könnte – technisch, stilistisch, darstellerisch. Achtmal hat John Neumeier mit ihm kreiert, in allen wichtigen Hauptrollen steht er auf der Bühne: Vaslaw Nijinsky in „Nijinsky“, König Ludwig in „Illusionen – wie Schwanensee“, Prinz Désiré in „Dornröschen“, Armand und Des Grieux in „Die Kameliendame“, Odysseus in „Odyssee“, der Engel in „Weihnachtsoratorium I-VI“, Aminta in „Sylvia“, Alexej Wronski in „Anna Karenina“, Joseph in „Josephs Legende“, Hamlet in „Hamlet 21“, Philostrat/Puck in „Ein Sommernachtstraum“ – um nur die wichtigsten zu nennen.

Selbst aus weniger glanzvollen Choreografien holt er noch das Beste heraus und lässt sie unerwartet strahlen. Es ist die ihm eigene Mischung aus Kraft und Zartheit, Virilität und Empfindsamkeit, Virtuosität und Zurückhaltung, die jeden Zuschauer vom ersten Moment an in Bann schlägt. Er hat das gewisse Etwas, eine dramatische Ausdruckskraft und Vielseitigkeit, gepaart mit hoher Musikalität sowie der Ernsthaftigkeit, Intelligenz und Bescheidenheit, die einen großen Künstler auszeichnen. 

Jüngst erst brillierte er in der Weihnachtszeit als Günther in „Der Nussknacker“, um schon wenige Tage später für eine Aufführung der klassischen „Giselle“ mit dem ukrainischen Nationalballett in Tokyo zu gastieren, zusammen mit Hamburgs Erster Solistin Madoka Sugai. 

Wie ist er zu dem geworden, was er heute ist? Wie schaut er auf den Tanz heute? Annette Bopp hat mit ihm darüber gesprochen. 

 

Sasha, wie bist Du dazu gekommen zu tanzen? 

Der Ausgangspunkt liegt in der Hochzeit meiner Halbschwester. Damals war ich acht Jahre alt und habe den ganzen Abend lang getanzt. Ich hatte keinen Unterricht vorher, es kam einfach aus mir heraus. Danach haben meine Eltern gesagt: Der Junge muss tanzen! Sie hatten immer ein gutes Gespür. In der Volkstanzschule war ich ein kleiner Streber und habe mich sehr angestrengt. Für meine Eltern war es nicht leicht, die Gebühr dafür aufzubringen, ich bin in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Vier- bis fünfmal in der Woche habe ich getanzt. Die anderen Tage verbrachte ich in einem Club für Ingenieure, dort haben mein Bruder und ich Modellraketen gebaut, und er ist dann Ingenieur für Raumfahrt geworden. Das Handwerkliche ist meine zweite Leidenschaft. Ich schraube gern an Autos herum und habe ein Faible für Oldtimer. Und ich baue gerne mit Holz. 

Warum kamst Du nach Deutschland? 

Meine Mama war Englisch-Dozentin an der Hochschule und bekam 50 Dollar Gehalt im Monat. Allein der Unterhalt für unsere Wohnung kostete aber mehr als das. Oft hat sie monatelang kein Geld bekommen, weil der Staat pleite war. Mein Papa war Direktor einer Holzfabrik, er ist aber überhaupt kein guter Geschäftsmann und wurde aus allen Richtungen betrogen. Er hat viel durchgemacht in den 1990er Jahren und viel Aggression erfahren. Meine Eltern haben schließlich beschlossen, dass es für sie dort keine Zukunft mehr gibt. Es kam nicht darauf an, was du konntest oder ob du dich angestrengt hast, es ging nur darum, ob du die richtigen Beziehungen hattest. Wenn du wohlhabend sein wolltest, musstest du dich mit Betrügern einlassen oder weggehen. Da mein Opa Jude war, konnten wir nach Deutschland einwandern. 

Wie kamt Ihr dann nach Hamburg? 

Das war Zufall und Glück. Die Beamtin in der Ausländerbehörde hat uns Pinneberg zugeteilt, weil sie meinte: Mein zwei Jahre älterer Bruder und ich müssten wegen der schulischen Möglichkeiten in die Nähe einer Großstadt. Meine Mama erfuhr dann von der Ballettschule beim Hamburg Ballett, ich habe mich vorgestellt und wurde angenommen. Da war ich 12. 

Meisterschüler in der Ballettschule

Davor hast Du ja nur Volkstanz gemacht. Wie bist Du zurechtgekommen mit dem klassischen Ballett? 

Es war nicht so leicht am Anfang, weil ich das Stangentraining nicht gewöhnt war, ich fand es langweilig. Erst bei einem zweiwöchigen Sommerkurs in Yorkshire, den Kevin Haigen mir ermöglicht hat, habe ich verstanden, wozu das gut ist. Und ich habe gemerkt: Ich bin besser als die anderen, wenn ich mir Mühe gebe. Danach hat mich der Ehrgeiz gepackt. 

Heißt was?

Ich habe im Ballettzentrum mehr trainiert als die anderen, oft auch noch abends, ich hatte immer Stress mit dem Pförtner deshalb. So lange zu bleiben war eigentlich nicht erlaubt wegen der Versicherung, und Marianne Kruuse, die damals die Schule leitete, musste mich mehrfach in der Woche ermahnen. Aber am Ende des Jahres hatte sie ein Stipendium für mich im Ballett-Internat organisiert mit 100 Euro Taschengeld monatlich, weil ich mir so viel Mühe gegeben hatte. Das war viel Geld für mich, und ich werde ihr das nie vergessen. Das zeugt von so viel Menschlichkeit. Sie hat auch ermöglicht, dass ich schon als 14-Jähriger mit der Theaterklasse der 17-/18-Jährigen trainieren konnte. Das war für mich die größte Motivation. 

Das heißt, sie hat Dein Talent erkannt? 

Offenbar. Ich bin der festen Meinung, dass talentierte Menschen auch als solche behandelt werden müssen. Wir sind nicht alle gleich. Es gibt Leute, die machen etwas mit links, und andere mühen sich zwei Jahre. Das muss man in der Ausbildung berücksichtigen. Für mich ist es der Tod der Kunst, wenn man Talente nicht angemessen fordert und fördert. Ich bin unfassbar dankbar, dass es bei mir anders war. Das war nicht selbstverständlich. 

Welche Lehrer*innen haben Dich geprägt? 

Im Grunde alle an der Ballettschule Beteiligten, vor allem aber Kevin Haigen und später in der Kompanie Irina Jacobson, beide in ihren Gegensätzen. Kevin kann einen enorm inspirieren, er ist sehr chaotisch, er spricht viel und gibt dir kaum Zeit, darüber nachzudenken, aber du kannst ihm fast blind folgen. Irina, eine Schülerin von Agrippina Waganowa, kam als Gast-Ballettmeisterin jedes Jahr zweimal nach Hamburg, zu Beginn und am Ende der Saison. Sie war das absolute Gegenteil von Kevin: sehr rational und streng, ruhig und gelassen, nie böse. Das hat mir gutgetan. Jeder Unterricht war wie eine Aufführung mit exaktem Timing. Sie hatte eine deutliche Wortwahl und eine klare Vision. Bei ihr hat die Arbeit immer Sinn gemacht, es hat sich gelohnt, jeden Tag besser zu werden. Sie hat mir geholfen, die Basis des Balletts zu verstehen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Stundenlang konnte sie an einem einfachen Schritt oder einer Handbewegung üben. Das ging einem schon auf die Nerven, aber sie hatte recht. Die feinsten Nuancen haben die größte Wirkung. Mich hat sie sehr beeinflusst, ich denke jeden Tag an sie – sie ist ja 2018 gestorben, da war sie schon sehr alt. Für mich strahlt sie immer noch wie ein Stern auf uns herab. 

Du hast schon als 16-Jähriger mit John Neumeier kreiert – in seinem Schul- und Jugendprojekt „Romeo und Julia“ hast Du die Hauptrolle getanzt. Wie war das? 

Damals habe ich nicht erkannt, was für eine Auszeichnung das darstellte –ich war ja noch nicht einmal in der Theaterklasse, ziemlich pubertär. Ich wollte lieber zum Prix de Lausanne, um mich mit anderen zu messen. Dort war ich schon zugelassen und hatte mich intensiv mit Kevin vorbereitet. Aber dann hat John entschieden, während eines Gastspiels in Italien diesen Romeo mit mir kreieren zu wollen, genau in der Zeit des Prix de Lausanne. Damals war ich ihm böse, aber im Nachhinein kann ich ihn verstehen und finde es gut, dass ich nie an Wettbewerben teilgenommen habe.  

Warum? 

Weil es nicht viel mit Tanz zu tun hat. 

Eine rasante Karriere

Wie hast Du die Kreationen mit John erlebt? 

Das war jedes Mal sehr besonders. Er machte die Bewegungen immer vor, auch im fortgeschrittenen Alter. Das darf man dann nicht 1:1 nachmachen, sonst sieht das komisch aus. Ich machte es so, wie ich es fühlte. Das fand er gut, so wollte er es haben. Er kreiert ja nicht, was er selbst kann, sondern was du als Tänzer kannst. Er nimmt Vorschläge und Ideen an, bremst aber auch, wenn man zu viel will. Er kann uns wunderbar einstimmen, wie ein Dirigent ein Orchester. 

Er hat Dir schon früh große Rollen anvertraut ...

Ja, ich habe schon als Gruppentänzer die Hauptrolle in Balanchines „Der verlorene Sohn“ getanzt und den Joseph in Johns „Josephs Legende“, und Daphnis in „Daphnis und Chloe“. Da war ich 18. 

Welche Kreation hat Dich besonders geprägt?

Der Engel in „Weihnachtsoratorium I-VI“, zusammen mit Silvia Azzoni. Sie ist eine grandiose Partnerin, gerade auch für die Kreation. Zum ersten Mal hatte ich jemanden, von der ich sagen konnte: Meine Güte, sie ist so viel besser als ich ... Die Proben waren toll, die Choreografie ist großartig. Und doch muss ich mich immer wieder sehr damit abmühen. 

Warum? 

Es ist zweierlei, ob man die Vorstellung einmal ansieht und die Musik hört, oder viele Male bei Proben und Aufführungen beteiligt ist. Ich war oft so müde davon ... Die Choreografie ist sehr schwierig und anspruchsvoll, diese Musik strahlt eine so unendliche Freude aus, die musst du liefern auf der Bühne, ganz egal, wie es dir gerade geht. Du musst immer das gleiche Gefühl in dir abrufen können. Das ist extrem anstrengend und bei weitem nicht so rosig, wie man sich das vorstellt. 

Ähnlich herausfordernd war die Rolle des Lensky in Johns „Tatjana“. Die Musik, ein Auftragswerk von Lera Auerbach, war unfassbar schwierig, wir mussten so viele Probleme meistern. Und obwohl viele das Stück nicht sehr mögen, finde ich es sehr interessant. Weil John viel tiefer gegraben hat in dem Gedicht von Puschkin als Cranko in seinem „Onegin“. Er hat das Russische und die Inhalte viel besser erfasst. Auch den Charakter von Onegin, der eigentlich sein will wie Lensky, aber so anders ist als er. John kreiert nicht nur für die Theatralik. Er versucht, die Emotionen von Menschen herauszuarbeiten und sie im Tanz zu verwirklichen.

Eine problematische Entwicklung?

Du trittst häufig auch an anderen Häusern auf, wie blickst Du auf die Entwicklung im Tanz heute? 

Die macht mir wirklich Sorgen. Bei neuen Kreationen scheint die Triebfeder oft zu sein: Wie kann ich ein Stück am besten weiterverkaufen? Wie konstruiere ich es so, dass es nicht zu viel Aufwand macht – in Bezug auf Musik, Licht, Kulisse, Anzahl der Tänzer*innen, Zeit zum Einstudieren. Viele sind für 15-20 Leute gemacht und dauern eine Stunde, das geht überall. 

Es gibt aber viele herausragende Ballette, die nur eine Stunde dauern? 

Es geht nicht um die Länge, sondern um die Idee, die dahintersteht. Ich habe nichts gegen zwei- oder dreiteilige Ballettabende, wenn sie inhaltlich Sinn machen. Wenn man aber in erster Linie kommerziell denkt, wird die Kreativität beschnitten. Natürlich ist das Budget oft begrenzt, aber ich finde es traurig, wenn Aspekte des Weiterverkaufens die Oberhand gewinnen und nicht die Dramaturgie, die Kunst, im Mittelpunkt steht. Das passiert heute leider sehr oft. Und am Ende sehen die Stücke ähnlich aus, auch wenn sie unterschiedliche Schritte haben. Wir müssen alle Geld verdienen, aber das darf in der Kunst niemals im Vordergrund stehen. Wenn sich das Ballett in diese Richtung entwickelt, ist das der Tod der Kunst und auch für unseren Beruf als Tänzer. 

Wer waren Deine Vorbilder als Tänzer? 

Am Anfang Mikhail Baryshnikov natürlich und Rudolf Nurejew. Später waren es die Hamburger großen Ersten Solisten: Sascha Riabko, Jiri und Otto Bubenicek, Ivan Urban, Lloyd Riggins, Ivan Liska. Bei den Frauen vor allem Heather Jurgensen, Anna Polikarpova, Silvia Azzoni, Hélène Bouchet, Joelle Boulogne. Heute habe ich keine Vorbilder mehr, eher Ideen, zu denen mich bestimmte Vorbilder inspirieren. Die baue ich bei den Vorstellungen gerne mit ein. Es sind kleine Hommagen an bestimmte Persönlichkeiten, die nimmt man aber nicht wahr, wenn man es nicht weiß.

Was macht gute Tänzer*innen aus? 

Ehrlichkeit. In der Bewegung und in der Darstellung. Dass man nicht prätentiös ist, nichts macht, was oberflächlich, effekthascherisch oder aufdringlich ist. Dass man nicht in Konkurrenz geht, nichts beweisen muss. Eine gewisse Naivität und Liebe zu dem, was man macht. John hat einmal zu mir gesagt: „It doesn’t matter the steps – as long as you are honest, it will work.” So ist es. 

Was macht gute Choreograf*innen aus? 

Menschenkenntnis. Und dass sie ihr Handwerk beherrschen. Dieses Handwerk besteht aus einer Kombination aus Respekt, Professionalität, Inspiration, Bildung. Gute Choreograf*innen lassen sich auch daran erkennen, wie sie mit Schwierigkeiten umgehen, und die gibt es immer – musikalisch, zeitlich, tänzerisch, menschlich. Sie machen aus jeder Situation etwas Wesentliches. Choreografie ist mehr als Schritte setzen. 

Gibt es eine Rolle, die Dir besonders nahe ist? 

Nein. Man muss sich immer in das verlieben, was man jetzt gerade macht. Es ist eine Sache der Disziplin und des Respekts. Und der Liebe. Der Hingabe an das, was ich tue. 

Warum bist Du in Hamburg geblieben? 

Weil es hier immer besser war als anderswo. Ich habe manchmal nach Gründen gesucht, um wegzugehen, aber nie einen gefunden. Vor allem im Sommer habe ich auch mit anderen Kompanien trainiert. Ich war in Helsinki, Kopenhagen, Oslo, München, Paris, Moskau, Wuppertal, San Francisco, Regensburg, Bremerhaven, Mönchengladbach, beim Scapino Ballet, beim Nederlands Dans Teater, beim Royal Ballet und beim English National Ballet in London. Virtuosität allein interessiert mich nicht. Sie ist schön anzusehen, bleibt aber oberflächlich. Sie erfüllt mich nicht als Künstler. Ich brauche die Emotionalität und das Verständnis zur Musik. Wenn die Musik das Gegenteil sagt von dem, was ich darstellen soll, habe ich ein Problem damit – außer, wenn es bewusst so gewollt ist. Ich will die Dinge in der Tiefe erfassen und verstehen und dann mit meiner Interpretation auf die Bühne bringen. 

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